Wiener Diözesangeschichte 1960 - 1996

Vor kurzem konnte der Verfasser eine kaum zitierte Abhandlungfinden,die sich mit eben diesem Thema befaßt: Die Be deutung der scholastischen Philosophie für das heutige medizinische Denken. Diese „historische und.methodologische' Studie" stammt von Maximilian Stemberg" und erschien 1926 in den Abhand lungen zur theoretischen Biologie'^. Der Autor schreibt dazu,daß diese Studie am Krankenbett entstanden sei,im Gespräch mit seinen Assistenten über Fragen der medizinischen Logik,und daß ein Teil der Ergebnisse am 18. Juni 1920 in der Philo sophischen Gesellschaft an der Universi tät Wien vorgetragen worden war.DerAu tor(1868-1934)warPrimariusderinternen Medizin in Wien und wurde 1903zum tit. a. o. Professor an der Universität Wien er nannt. Es handelt sich um eine bemerkens werte Bemühung im Grenzbereich von Medizin und Philosophie. Anfangs weist Sternberg darauf hin, daß das Vorurteil der Philosophiegeschichte von der Be vormundung der Philosophie durch scho lastisches Denken und dessen Fortdauer aufgegeben werden müßte. „Einerseits betrachtet man die Scholastik nicht mehr als ein unerträgliches Joch,anderseits hat man erkannt, wie sehr gerade die drei zu letzt genannten Gelehrten Descartes,Spi noza und Leibniz,ergänztdurch Verfasser unterdem Einfluß der scholastischen Phi losophie gestanden sind und wie sich scholastische Auffassungen und Pro bleme eben durch die Vermittlung dieser Denker bis auf unsere Tage fortgepflanzt haben und noch immer wirksam sind. Auch für die Medizin ist der Zusammen hang mit der scholastischen Philosophie keineswegs unterbrochen. Nur laufen die Fäden dieses Zusammenhanges recht verborgen,so daß eseinersorgfältigen Be trachtung und einer Untersuchung un scheinbarer Anzeichen bedarf, um die Verbindungen aufzudecken".'® Nach Sternberg war eine radikale Ab kehr von derScholastik gar nicht möglich, weilam Anfang des Medizinstudiumseine Vorlesung über (scholastische) Philoso phie vorgeschrieben war.'"* Vor allem aber blieben bisin die Gegenwart,in der münd lichen Tradition der Mediziner, lateini sche Redensarten und Regeln lebendig, die „alle dem scholastischen Unterricht entstammen...wenn man aber nach dem Namen des Autors fragt, bei dem dieser oder jener Satz wörtlich zu finden ist, so wird fast jedesmal die Antwort lauten: Thomas von Aquino".'® Sternberg geht diesen Quellen,den Ori ginalstellen nach. Er findet, daß „die Be deutung dieser alten Spruchweisheit weit über das Historische" hinausgehe und für die metaphysischen und erkenntnistheo retischen Fundamente für Theorie und Praxis der heutigen Medizin enthalte. Als Beispiele werden vier medizinische Regeln ausgesucht,ausgewählt und nach ihrer Herkunftund Begründung und nach ihrer heutigen Geltung untersucht. Die Physiologie verwendet bevorzugt die teleologische Betrachtungsweise, welche sich auf den aristotelischen Satz nihil facit frustra natura zurückführen läßt; bei Thomas findet sich dieser Satz nach Sternberg an nicht weniger als elf Stellen; auch in der erweiterten Form: Deus et natura nihil faciunt frustra.'® Die ses teleologische Prinzip habe auch zur Entdeckung des Blutkreislaufes durch W.Harvey geführt. Sternberg nennt die teleologische, die finale Betrachtungs weise als heuristischesPrinzip in derPhy siologie und bringt einige Belege für die Forschung auch für die praktische Medi zin. Im Gebiet der angewandten Heilkunde werden ebenfalls in unserer Gegenwart mehrere mittelalterliche Axiome ange wandt. Der Arzt macht bei der Diagnose die Voraussetzung, daß sich die verschie denen Symptome aufeine Krankheit zu rückführen ließen. Die Lehrbücher der Diagnostik legen großes Gewicht auf die ses Prinzip. Doch könne „der eigentliche Grund für diese diagnostischeRegelnicht aus der medizinischen Empirie stam men", die Erfahrungen, die bei den Ob duktionen gemacht werden,sprechen da gegen.Diese Regel geht aufeinen aprioristischen Grundsatz zurück, auf die meta physische Auffassung, Prinzipien sollten nicht blindlings, nicht aufs Geratewohl vermehrt werden.Bei Thomasvon Aquin finden sich zutreffende Stellen; quod sufficienter fit uno posito, melius est per unum fieri quam per multa;"es gibt noch andere Zitate. Sternberg führt dann noch eine Reihe von Parallelen aus der mittelal terlichen und neuzeitlichen Philosophie, Psychologie und Physik an,die aufdieser ,,reduktiven" Betrachtungsweise basie ren.Er verschweigtauch nicht die Gefahr, die bei einer Uberbetonung dieses dia gnostischen Prinzips der Einfachheit ent stehen kann. Ein weiteres Beispiel für seine Grund these, daß Leitideen diagnostischen und therapeutischen Vorgehens aus der mit telalterlichen, letzthin aus der thomani schen Philosophie stammten, nimmt Sternberg aus der Praxis:„Für viele Verwaltungs- und Rechtszwecke darf der Mensch nur eine Krankheit haben"; es geht um die Festlegung einer Haupt krankheit. Nach scholastischer Auffas sung geschieht die Benennung nach dem vorzüglichen Teil,denominatio fit a potiori.'® Auftherapeutischem Gebietleitet der Satz cessante causa cessat effectus die kausale Behandlung,die rationale Thera pie. Mit anderen Worten,vermag man die Ursache einer Erkrankung zu beseitigen, sondern weichen auch deren Symptome. Sternberg betont und schreibt dazu:Auch dieser Grundsatz ist nichtaufdem Boden der medizinischen Empirie erwachsen, sondern ist ein metaphysisches Axiom der Hochscholastik. Bei Thomas heißt es an einer der zutreffenden Stellen: Augmentata causa augmentatur effectus." Abschließend faßt Sternberg zusam men, „daß die Ärzte auf das zäheste an Lehrsätzen der scholastischen Philoso phie festhalten. Er führt dies auf das unabweisliche Bedürfnis nach philosophi scher Grundlage zurück. ,,Die medizini sche Tradition, die die übliche Betrach tungsweise von jeder Philosophie losge löst glaubt,hat...ihre axiomatischen und metaphysischen Grundlagen der aristote lisch-scholastischen Philosophie ent nommen, freilich aus dem Zusammen hang gerissen und damit zur Quelle von mancherlei Mißverständnis und Irrtum gemacht".-" Diese lang zurückliegenden Erwägun gen von Sternberg weisen auf formale Formen diagnostischen und therapeuti schen Denkens hin. Die Feststellung des Fortdauems formaler Kategorien thomanischer Herkunft in der Medizin fügt sich zujenen späteren Studien inhaltlicher Na tur, die zeigen, inwieweit die thomani schen und gegenwärtigen Auffassungen gemeinsam sind. Als Beleg für diese Be hauptung sei neben einem Hinweis auf John C. Eccles®' P. Chauchard zitiert: „Der wissenschaftliche Materialismus lie fert uns heute eine funktioneile,sehr ent materialisierte Ansicht vom Leben...das einzige Bleibende sind nicht die materiel len Bestandteile, sondern ist deren Orga nisation...ist das nicht die genau wissen schaftliche Transponierung eines Tatbe standes,den die thomistischePhilosophie schon lange vor der modernen Wissen schaft festgelegt hatte: die Struktur der Materie ist das Aequivalent ihrer substan tiellen Form? Das Gleiche gilt für das Problem der Beziehung von Seele und Körper...legt man aufdie Art,wie derle bendige Körper des Menschen als Einheit zusammengehalten wird, besonderen Nachdruck,so kommtdas der Erkenntnis gleich,daß die Seele die Form des Körpers ist",auch die Strukturierung des Gehirns entspreche der dem Aequivalent der In formierung „und das Gehirn, philoso phisch betrachtet,führt uns wiederaufdie Seele als Form desKörperszurück":"anima forma corporis. 'Gottfried Roth: Tomaso d'Aquino nella recente et recentissima psichiatria. Riv. di filosof. neo-scolastic, 49(1957)469-475. - Karl Jaspers: Allgemeine Psychopathologie. Berlin und Heidelberg 1948 S. 189. 'Paul Kopp:Psychiatrisches beiThomas von Aquin. Zschr. gesamt. Neurol. und Psychiatr. 152(1935) 178-196. E. Eduardo Krapf: Tomas de Aquino y la psicopatologia. Buenos Aires 1943. ^ Gottfried Roth: Thomas von Aquin in der neueren und neuesten Psychiatrie.Confin. psy chiatr. 4(1960)170-186. '' Gottfried Roth; Das Bild des Arztes bei Thomas von Aquin. Ewige Weisheit. 3 (1975) 99-102. 'Roberl Busa:SanctiThomae Aquinatis operum omnium indices etconcordantiae.Stuttgart 1973 ff. " Thomas von Aquin: Sum.theol. III, 68, 12, ® Hieronymus; Brief 95, ad Rustucum; Brief 97,ad Demetriadem. Zit. in: J. Starobinski,Ge schichte der Melancoliebehandlung von den Anfängen bis 1900. Acta psychosomatica.4 Ba sel 1960.S. 34.-Thomas von Aquin;Sum.theol. I, II, 35. 5. Thomas von Aquin:Sum.theol.I, II. 1,1 co. "Ernst Tomek: Universität Wien. Bericht über das Studienjahr 1933/34. Wien 1935. S. 37: Maximilian Sternberg, 1868-1934. Medizinstu dium in Wien.Promolionzum Doktor der Medi zin 1887. 1895 Primararzt des Wiedener Kran kenhauses. Zahlreiche Arbeiten aufdem Gebiet der intemen Medizin,insbesondere der Gewer bekrankheiten. 1894 Habilitation, 1903 a. o.Pro fessor.Interesse für Mathematik,Physik und für Probleme der Philosophie. '* Maximilian Stemberg: Die Bedeutung der scholastischen Philosophie für das heutige me dizinische Denken. Eine historische und me41

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