Wiener Diözesangeschichte 1960 - 1996

bald in eine Wirksamkeit hineinwachsen, die über den Pfarrsprengel hinaus für den ganzen IX. Bezirk und in mancher Hinsicht für Wien und Österreich von größerer Bedeutung dadurch wurde, daß er in das immer stärker aufblühende christliche Vereinsleben hineingezogen wurde. Folgen wir seinem Eigenbericht, weil er damit zugleich interessante Einblicke in jene Periode gewährt"). „In Perchtoldsdorf haben mich bei den Mai- oder Herz Jesu-Andachten einige Leute aus Wien predigen gehört, die dem damaligen Kooperator bei St.Othmar (Wien III.), jetzt Kanonikus Anton Schöpfleuthner von mir erzählten. Der ließ mich nun in den Aus schuß des damals tonangebenden Waisenhilfsvereins wählen"). Ich fihg auch an, mich mit der wichtigen Zeitfrage, der Arbeiterfrage, zu beschäftigen, und hielt im Laufe von zwei Jahren nachmittags in der Votivkirche sog. sozialistische (richtig soziale) Predig ten, die im Druck erschienen sind, auch ins Böhmi sche übersetzt wurden^^. Unter den zahlreichen Be suchern war auch ein Greißler, der öfter mit Dr. Psenner") zusammen kam und ihm von mir erzählte. Dieser suchte mich auf und bewog mich, an der Grün dung des christlichsozialen Vereines mitzuwirken,des sen Statuten am 5. Jänner 1887 von der n. ö. Statthalterei genehmigt wurden. Damals beherrschte der Liberalismus noch das ganze politische Leben. Die katholischen Vereine, die Ende der 60ger- und anfangs der TOgerjahre eine recht schöne Wirksamkeit entfalteten, waren fast ab gestorben. Niemand wollte mehr katholisch sein. Aber der Liberalismus hatte einen wunden Punkt, die Ju den, die durch ihn politisch und wirtschaftlich über mächtig, während die christlichen Geschäftsleute zu rückgedrängt wurden und vor diesen Zugewanderten in die entlegenen Stadtteile ziehen mußten oder zu grunde gingen. Die übrigbleibenden Geschäftsleute mußten ihnen roboten, da jene den Handel mit allem beherrschten, und ihnen um jeden Preis arbeiten. So entstand der Antisemitismus, der sich zuerst im Re formverein organisierte und riesigen Zulauf hatte. Schönerer^), Schneider®'), Geßmann'^''), Dr. Lueger*®), Dr. Pattai^*) u. a. waren dabei. Infolge persönlicher Zwistigkeiten der Führer gibg dieser Verein jedoch zugrunde. Da schlug Dr. Psenner eine neue Organisation des christlichen Volkes vor. Auf seine Einladung versam melten sich Ende 1886 kaum ein Dutzend einfacher Personen, deren Namen in der Öffentlichkeit fast ganz unbekannt waren und auch später nie genannt wurden, in der dazumal noch katholischen Ressource Wien I., Reichsratstraße 3, um die Statuten des neuen Vereins zu beraten. (Latschka war der erste beigetre tene Geistliche.) Der nach dem Stoecker'schen Verein in Berlin vorgeschlagene Name „christlich-sozial**)" erregte aber große Bedenken, weil man befürchtete, das Wort „christlich" könnte unsere Bestrebungen bei der Be völkerung diskreditieren. So traurig stand es dazu mal noch in Wien mit dem Christentum. Die Benen nung wurde aber schließlich doch angenommen, denn sie enthielt unser Programm: Die Lösung der sozialen Frage nach den Grundsätzen des Christentums. Als der Verein konstituiert war (Dr. Psenner als Präsident, ich als Vizepräsident) begann es mit Ver sammlungen in den Vororten. Ich wurde sozusagen gezwungen als Redner aufzutreten, hatte aber keine Ahnung, daß ich einer sei. Jetzt in der Not mußte es sein, denn wir hatten keine berühmten Redner. Un sere Redner waren Psenner und ich und Männer aus dem Volke, Schuster Zinner •(?) (später Sekretär in der Schuhmachergenossenschaft, dann Beamter bei der Städt. Arbeitsvermittlungsanstalt), Schlosser Tischler (später auch Gemeinderat), Drechsler Ram harter (jetzt in Neuottakri'ng mein Kirchenvater),Ein spänner Seif. Die späteren „Führer" des christlichen Volkes ließen sich anfangs bei uns nicht blicken. Un sere armen Leute gründeten eine Gewerbesektion nach der andern, zuerst in Ottakring beim „goldenen Luchsen" mit Wersan als Obmann, und hielten fleißig Versammlungen. Die „Rothen" halfen durch versuchte Sprengung unserer Versammlungen mit, uns berühmt zu machen. Wir wurden eine Macht, mit der man rechnen mußte. Da kam das 50jährige Priesterjubiläum Papst Leos XIII. Die Sektion Ottakring des christlichsozia len Vereins forderte ih einer Resolution den Bürger meister zu einer Huldigungsadresse der Stadt Wien auf. Psenner meldete dies Dr. Geßmann. Ich wurde der Besprechung beigezogen und sah diesen hierzum erstenmal. Geßmann äußerte verschiedene Bedenken über die Opportunität dieser Sache und meinte, wir sollten alles ihm und seinen Parteigenossen überlas sen, worauf i'ch erwiderte, daß die Unsrigen festent schlossen seien, durch diese Aktion den Stein ins Rol len zu bringen. Darauf stellte der antisemitische Klub im Gemeinderat einen Antrag in unserem Sinn, der vollen Erfolg hatte. Kaum hatten die Liberalen im Gemeinderat den Antrag der Antisemiten aber gele sen, als sie selbst einen schwungvoll abgefaßten An trag einbrachten und ihn im Plenum vor dem anti semitischen verlesen ließen. So war der Wiener Ge meinderat einig in der Papsthuldigung. Bürgermeister Uhl*®) erhielt hiefür einen päpstlichen Orden, den er eigentlich seinen Gegnern, den Christlichsozialen, zu verdanken hatte". Latschka berichtet nun weiter, wie man jetztver suchte, alle „christlichen Wiener" zu vereinigen; wie das Papstjubiläum zum Anlaß hiezu genommen und ein großes Fest mit Musik, Reden und Bankett in den Harmoniesälen in der Helferstorferstraße (Wien I.) von einem Komitee mit ihm an der Spitze arrangiert wurde, sich die offizielle Welt dabei' entschuldigte, z. B. der Stadtkommandant vorgab, er trage die Liebe zum Hl. Vater ohnehin im Herzen usw., Kard.Ganglbaoier, der Nuntius, die katholischen Adeligen, Advo katen, Handwerker, Studenten und Arbeiter jedoch erschienen, Fürst Alfred und Prinz Alois von und zu Liechtenstein*^), Lueger und ein Arbeiter begeisterte Reden hielten, so daß dieses „herrliche" Fest zum Ge burtstag der „Vereinigten Christen" wurde. Er wurde dafür mit dem päpstl. Ehrenkreuz Pro ecclesia et pontifice bedankt. „Man nannte sich .Vereinigte Christen' aber bloß im negativen Sinn, insofern man kein Jude war", fährt er fort. „Unter diesem Begriff lief gar mancher mit, der vom Christentum wenig in sich hatte. Des wegen wurde diese Benennung besonders in geistli54

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