Hier entsteht die heftige Versuchung, diese Früh diagnose der Krise mit den allgemein bekannten Krankheitserscheinungen des Jahres 1970 zu illustrie ren; es ergäbe sich dabei eine erstaunliche Ähnlichkeit des geistigen Klimas, in dem (damals wie heute) Pro gressive und Konservative um eine „Neue Form" ringen und gerungen haben, um ein „Neues Wort in der Kir che", um eine „Neue Kirche" usw. Der Anspruch auf eine Originalität der heutigen Reformbestrebungen würde ebenso widerlegt wie die Behauptung der Reak tionäre, „sie hätten schon immer recht gehabt". Ehrhards wissenschaftliche Analyse des Kulturzer falls als Folge der Verzerrungen des gerade damals stark aufkommenden (jetzt auf einem Höhepunkt der Macht befindlichen) Laizismus, unchristlichen Huma nismus, Historizismus, Empirismus, Nationalismus und Subjektivismus wurde im „eigenen Lager" als unge mein treffend begrüßt; wie die Diskussionen und Pole miken beweisen, fühlten sich auch „die anderen" in ihrer Hybris gegen den Katholizismus getroffen. Die Begeisterung für Ehrhard ließ da und dort nach, als dieser nach seiner Kritik nicht sogleich auf einen star ren „Integralismus" einschwenkte, sondern davor warnte, katholischerseits als Reaktion auf den herr schenden Zeitgeist einzelne „Kulturziele absolut zu setzen". Ehrhard zeigte die Gefährlichkeit solcher Fehlhaltungen, wie Weltflucht und Klerikalismus, Ge schichtsfremdheit und Fremdheit gegenüber den Na turwissenschaften, vor allem aber ein „alleiniges Fest halten an einer zeitlich gebundenen ideologisierenden Metaphysik" auf. Mit anderen Worten: Ehrhard sah am Anfang des Jahrhunderts voraus, was die bleibende Gefahr des Katholizismus im 20. Jahrhundert wurde. Konzessionen an den übermächtigen Zeitgeist zur Vermeidung des Vorwurfs einer „Rückständigkeit" und ein zeitweises Abgleiten des Religiösen in die Minderwertigkeit einer „Ideologie unter anderen Ideologien". Den meisten Zeitgenossen Ehrhards war gar nicht bewußt, was heute schreckhafte Erkenntnis vieler Katholiken ist: Die Tragweite des Gegensatzes einer Welt, die ohne Gott existieren will, mit der katholischen Kirche. Ehrhards Erkenntnis der Gefahr und seine Entschiedenheit ihr zu begegenen trugen ihm den Vorwurf ein, er. der Arzt, sei selbst von den Krankheiten angesteckt wor den; vom ..liberalen Katholizismus", vom „Modernis mus". Im Schnittbereich zwischen .,Fortschrittlichen und Liberalen" und „Konservativen" wirkend, suchte er „Das Ganze" zu bewahren. Das drückt ein Kernsatz seiner Kulturkritik aus: Wenn darauf hingewiesen wird, daß der Katholi zismus eine wesentlich KONSERVATIVE MACHT darstellt, so liegt das Wahre der Behauptung nur darin, daß er beide Geistesrichtungen, die KONSERVATIVE UND DIE FORTSCHRITTLICHE, harmonisch mit einander zu versöhnen sucht. Darin erblicke ich (Ehr hard) aber einen der größten Vorzüge des Katholizis mus; denn beide Geistesrichlungen sind für eine wahr haft ersprießliche Fortentwicklung der menschlichen Kultur notwendig." In den daran anschließenden Ausführungen, deren zeitnahe Tendenz oft ergreifend ist, zeigt Ehrhard die Entwicklung des „soziologischen Gesetzes im Fort schritt" auf; wiegt er die Kulturgegensätze von Univer salismus und Nationalismus gegeneinander ab; warnt er vor den Einseitigkeiten des Freisinns und des Protestan tismus. Seine Korrespondenz mit dem großen protestan tischen Theologen Adolf von Harnack offenbart eine für die damalige katholische Theologie noch ungewohnte wissenschaftliche Parität mit der (jetzt neuerdings) als überragend angesehenen evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts. Ehrhard sah die Gefahren, die von dort her drohten und die heute den Katholizismus überfallen: Ein kirchengeschichtlicher Historismus, der die Überzeitlichkeit des Christentums in Frage stellt; eine Abwertung des Dogmas als Abfall vom ursprüng lichen Christentum in Hellenismus; ein unablässiges Infragestellen der absolut ungeschichtlichen Wahr heiten, Wieviel Katholizität Ehrhard gerade in die studie rende Jugend Wiens getragen hat, bestätigt ihm diese, als ihn kirchliche Kreise aus Wien verdrängten (1902)*) und viele Prominente, die ihm anfangs anhingen, ab fielen. Für eine Iratholische Studentenverbindung ist Ehrhards Kulturbegriff, der immer zugleich auf das Religiöse wie auf das Sittliche reflektiert, heute nach wie vor das Fundament. Vom Fundament katholischer Geistigkeit und Kul turverbundenheit war bereits die Rede. Als Elsässer wußte Ehrhard um die Gefahren eines Nationalismus inmitten rasch wechselnder staatlicher Verhältnisse; daher sein landsmannschaftliches Prinzip des UrNordgaus angesichts des aufkommenden radikalen Nationalismus und des gleichzeitigen Kosmopolitismus. Ehrhard steht an der Spitze einer neuen Generation katholischer Gelehrter, die den verengenden Wissen schaftsbegriff des Positivismus sprengten und die Unlogik einer „voraussetzungslosen Wissenschaft" mit einem modernen Wissenschaftsbegritf zu widerlegen begannen. Das erste Blatt der Festschrift Nordgaus zum 25. Stiftungsfest zeigt Ehrhard inmitten der jungen Aktivitas der Gründergeneration; ihr war er sowohl mit seiner Willenskraft als auch in seiner Gemütstiefe „wahrhaft Freund und Bruder". In dem Standardwerk „Österreich und der Vatikan 1846—1918" (Styria-Verlag, Graz, 1958 ff.) beschreibt Friedrich Engel-Janosi die „edle Gestalt Ehrhards", den die „Wiener Universität noch zu Lebzeiten Leo XIII. infolge der Schrift ,Der Katholizismus und das zwanzigste Jahrhundert' verlor"; Engel-Janosi reflektiert auf die volle Genugtuung", die Ehrhard „nach kurzer Zeit der Verkennung" vom Papst erhielt, weil er „keiner der den Modernismus bildenden Grup pen angehörte". Die „kurze Zeit" dauerte Jahre, ein ganzes Jahr zehnt und die Verkennung verfolgte Ehrhard auch nach seinem Weggang nach Freiburg und Straßburg. Ehr hard wurde aus der Liste der römischen Prälaten ge strichen; er selbst hat sich niemals von seiner Treue zum Papst absentiert und er unterscheidet sich in die ser Treue von der „modernen Sachlichkeit" zeitgenös sischer Wissenschafter, die als Priester und Lehrer der Theologie in der Öffentlichkeit den Papst schmähen, um ihre „Zeitaufgeschlossenheit" zu belegen. 1918 wurde Ehrhard von den in den Erlaß ein dringenden französischen Truppen von der Universität Straßburg, aus seiner Heimat vertrieben. Schließlich konnte er seine Lehrtätigkeit an der Theologischen Fakultät in Bonn fortsetzen und beenden. 1926 kam er vorzeitig um die Emeritierung ein, um seine groß ange legten kirchengeschichtlichen Forschungen und deren Publikation fertigstellen zu können. In diesem Lebens abschnitt erreichte er die einsame Höhe einer inter national anerkannten Größe seines Faches, kamen Ehrungen aus fast allen Staaten Europas. Im Sommersemester 1933 hat der Verfasser dieser Zeilen als damaliger Senior der Verbindung mit Ehr hard korrespondiert. Es war die Zeit, in der auch im CV jenes Rechts-überhol-Manöver einer radikalen Rechten stattfand, jene fatale Vermischung von Katholizismus und „positivem Christentum" der NSDAP. Ehrhards Antwort ist wohl 1938, als die Nazis unsere Bude plünderten, verlorengegangen. Zwei Jahre später, 1940, als die deutschen Heere zum drittenmal im I^ben Ehrhards unter der brausenden WACHT AM RHEIN durch den Erlaß zogen, ist Ehrhard gestorben. Kardinal Schulte überbrachte dem Sterbenden über Vergangenes und Zonen des Konfliktes hinweg den Segen des Heiligen Vaters. Erst in der Vereinsamung seines späteren Lebens erreichte Ehrhard zuletzt die Anerkennung seines Schaffens und Wirkens, dessen Kurzformel lautet: Die wissenschaftliche Dokumenta- •) Auch ein Stück Wiener Diözesangeschichte. Zum 70. Stiftungsfest gehaltene Festrede,zum 75. aber genau so aktueller Rückblick und Vergleich, In: Nordgau Mitteilungen III-70.-Biographie über Prof. Ehrhard: Sh. österr. biographisches Lexikon (Loidl). Wien 1957 I 228. 26
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