Wiener Diözesangeschichte 1960 - 1996

Beiträge y^fgnei- Diözesangcsdiidite BEILAQE DES WIENER DiOZESANBLATTES Nr. 7 (Juli 1975) 113. Jahrgang Nr.4 Wien» am 1. Juli 1975 16.Jahrgang Inhalt: 30. O. Universitätsprofessor Joseph Maria Albert Ehrhard (1862 bis 1940). — 31. Die Seelsorger an der Heilanstalt Gugging (Schluß). — 32. Leopold Engelhart (Zum 25. Todestag). — 33. Cölestin Joseph Gangibauer, Fürsterzbischof von Wien (1881/1889). (Nachtrag: Schriftenverzeichnis). — 34. Die pastorale Tätigkeit der Augustiner des Landstraßer Konvents im 17. Jahrhundert. — 35. Die Inhaber der Pfarre Krems a. d. Donau. Personalgeschichtliche Studien (Von Beziehungen einzelner zu Wien bzw. zum Wiener Bistum). — 36. Das Erscheinungsbild des Pfarrers im 15., 16. und 17. Jahrhundert. 50.0.Universitätsprofessor Joseph Maria Albert Ehrhard (1852—1940) Dr.Heinrich Drimmel Gemeinschaften, die wesentlich sein und Bestand behalten sollen, entstehen nicht von ungefähr. Ihre Gründung muß notwendig sein, das heißt auf eine spürbare Not reflektieren oder, um mit Arnold J. Toynbee zu sprechen, eine „Herausforderung beantworten". In diesem Sinn soll hier von der Gründung Nordgaus und von dem Manne, der die Gründungsidee verfaßte, die Rede sein. In der grundlegenden Geschichte der ersten 25 Jahre Nordgaus (CV) schildert Alexander Ortel das entscheidende Ereignis, das am 11. Dezember 1899 auf dem Burschenconvent der Mutterverbindung „Austria"- Wien stattfand. Wie der damals 37jährige Ordinarius für Kirchcngeschichte an der Wiener Katholisch-Theologischen Fakultät, Dr. Albert M. Ehrhard, die An regung gab, für katholische Studierende aus den nörd lichen Ki'onländern der Monarchie, Böhmen, Mähren und Schlesien, eine Landsmannschaft, die CV-Verbindung Nordgau,zu gründen. Ehrhard, während des Zweiten Kaiserreiches Napoleons III. (1862) im Elsaß geboren, war 1898 als eine der ganz großen Hoffnungen der in der „LeoGesellschaft" zusammengeschlossenen jungen katholi schen Intelligenz an die Theologische Fakultät gekom men; er wurde bald das Ideal der gegen eine ungeheure gegnerische ÜbeiTnacht ankämpfenden katholischen Studentenschaft. Hier erlebte er den Durchbruch der katholischen Volksbewegung Karl Luegers zu den großstädtischen Massen. In kultureller Hinsicht war es die Zeit, in der es der Moderne gerade in Wien gelang, wesentliche Beiträge zur Entwicklung der Musik, Lite ratur und Bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts zu leisten. Allerdings stand der unbeugsame Selbstbehaup tungswille einer Handvoll katholischer Farbstudenten oft in einem krassen Gegensatz zu dem beschämenden „Inferioritätsgefühl", das im übrigen die Stellung der katholischen Geistigkeit gegenüber dem „herrschenden Zeitgeist" bedrückte. Der siegreiche Liberalismus hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Katho liken in ein intellektuelles Getto gejagt. Die Theologi sche Fakultät war eine Exklave der Universität. Be werber um ein akademisches Lehramt, deren katholi sche Herkunft und Anschauung bekannt waren, wurden in den von liberalen und nationalistischen Mehrhelten beherrschten Professorenkollegien ipso facto disqualifiziert; weil sie der Erfassung dessen, was man „voraussetzungslose Wissenschaft" nannte, nicht fähig und außerdem eine Gefahr für die .,Freiheit der Wissenschaft" zu sein schienen. (An der Universität Innsbruck zum Beispiel konnte ein Mitglied der Theo logischen Fakultät niemals Rektor werden usw.) Die jungen Theologiestuden'ten, aber auch andere katholische Studenten, die an die Hochschule kamen und dort die ersten Begegnungen mit der „fortschritt lichen Intelligenz" machten, hatten meistens keine Ahnung,daß die „vorurteilslos und unbedingt" gehand habte „geistige Freiheit" Ausdruck einer Gesellschaft war, die bereits haltlos geworden und sich ihrer selbst nicht mehr gewiß war, wie das ihr Zusammenbruch 1917/18 beweisen sollte. Im letzten Jahrzehnt der Monarchie war die Uni versität Wien zugleich mit der Berlins noch die welt bedeutendste des deutschen Sprachraums. Es gab an ihr indessen bereits mehr Hörer mit slawischer als solche mit deutscher Muttersprache. Unter sich waren die jungen deutschen und slawischen Nationalisten, die feudalen Corpsstudenten und die klassenkämpferischen Sozialdemokraten, die Rassenantisemiten Georg von Schönerers und die Zionisten des Exburschenschaftlers Theodor Herzl bis aufs Blut verfeindet; sie alle einte aber sogleich ein haltbares Bündnis, wenn es galt, mit einer Übermacht von oft 100 :1 über katholische Verbindungsstudenten herzufallen; weil diese nicht „antiklerikal", das heißt anti-katholisch, nicht ..natio nal-liberal", das heißt skeptisch zu Österreich, nicht „antikonservativ", das heißt revolutionär und „nicht auf die spezifische Standesehre bedacht", das heißt un sozial waren. Die nicht zu übersehende Krisis der katholischen Geistigkeit die eine große Ähnlichkeit mit der von heute hatte, forderte Ehrhard geradezu heraus. Er hat sich mit diesem Phänomen nicht ideologisch sondern wissenschaftlich-historisch auseinandergesetzt. Sein Ergebnis ist das 1902 erschienene und heute sehr lesenswerte Werk „Der Katholizismus und das zwan zigste Jahrhundert" (Stuttgart u. Wien, X -f 452 S., 9,—12. Aufig.). Dieses sogleich Aufsehen erregende Buch hatte für Ehrhard im wahrsten Sinne des Wortes eine schicksalshafte Bedeutung. In kürzestem Zeit abstand erlebte der Verfasser die Aufeinanderfolge von HOSIANA und CRUCIFIGE. Erhard sieht die Lage der Kirche im 20. Jahrhun dert durch drei „große Ereignisse" gekennzeichnet: — Erstens durch den Vorwurf, der Katholizismus sei „der große Gegner der modernen Kultur", hemme ihren Foi*tschritt und sei daran schuld, wenn die moderne Kultur nicht rascher fruchtbarer wirke. — Zweitens durch die „wachsende Entfremdung der gebildeten Kreise von der katholischen Kirche innerhalb der katholischen Länder und Staaten", so zum Beispiel in Österreich. — Drittens durch die „Unzufriedenheit mit einer Reihe von bestehenden kirchlichen Verhältnissen", die in verschiedenartiger Weise, ,.in theologischen Broschüren, in kirchenpolitischen Briefen, in Re formschriften und -vereinen, in separatistischen oder national-partikularistischen Bewegungen und Bestrebungen"... „innerhalb bestimmter Kreise, die grundsätzlich katholisch sein und katholisch bleiben wollen", „hier offen aufleuchtet, dort ver steckt unter der Asche glimmt. 25

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