Wiener Diözesangeschichte 1960 - 1996

Beiträge zur Wiener Diözesangesdiidite BEILAQE DES WI ENER DIÖZESANBLATTES Nr. 1 {Jänner 1974) 112. Jahrgang Nr.1 Wien,am 1. Jänner 1974 15.Jahrgang Inhalt: 1. Über kirchliche Zeitgeschichte. — 2. Johann Rudolf Kutschker, Kardinal und Fürsterzbischof von "Wien (1876—1881). — 3. Die österreichische Barnabitenprovinz(Ein "Überblick). Fortsetzung.— 4. Hin weise über Archivalien und Nachlaß von Prälaten Dr. Karl Rudolf, Leiter des eb. Seelsorgeamtes. — 5. Die Bergkirche auf der Hohen Wand. — 6. Zur kirchlichen Lokalgeschichte 1. Uber kirchliche Zeitgeschichte (Einige praktische Erwägungen) Dr. Franz Loidl Die Zeiten scheinen glücklicherweise vorbei zu sein, da man als angehender Historiker und vor allem Kir chenhistoriker hören und hinnehmen mußte, um sich klug und bescheiden zu behaupten, nämlich, daß nur der Mediävist — im Gegensatz zum Zeitgeschichtler — ein echter Kirchenhistoriker sei. Die Fächer; Neuere Geschichte und mehr noch Zeitgeschichte haben sich auch im Rahmen der Kirchengeschichte mehr oder min der durchgesetzt und sind erfolgreich ausgebaut, wie die aufstrebenden und bestens eingeführten Institute für „Neuere Geschichte und Zeitgeschichte" auch in Österreich ausweisen^). Es sei hier nun keinesfalls auf eine ausführliche und vollständige Behandlung des Fragenkomplexes: Neuere Geschichte und Zeitgeschichte, eingegangen, sondern es seien Erwägungen über die Neuere Kirchen geschichte und die kirchliche Zeitgeschichte angestellt. Die Anregung kam aus dem Bericht im Feuilleton der „Neuen Zürcher Zeitung", der den Titel „"Über den Um gang mit moderner Geschichte" trägt und dem ein "Vor trag des angesehenen Profanhistorikers J. R. von Salis zugrunde lag, den er vor der Antiquarischen Gesell schaft hielt^). Wurde er auch schon 1965 gehalten, die Gedanken bleiben voll aktuell und sind einiger Über legungen und Anwendungen auch für den Kirchen historiker und sogar für den kirchlichen Lokalhistori ker von Wert. Es sei gleich angemerkt, daß eigentlich der Pfarrchronist, der Pfarrblattschreiber und der Verfasser einer Pfarrgeschichte (auch Fest- oder Jubi läums-Schrift) irgendwie und mehr oder minder richtig und gut kirchliche Zeitgeschichte betrieben hat und betreibt, befaßt er sich doch mit solchem Stoff und be handelt er Zeitgenössisches und kommt er dem Zeit genossen entgegen, ja dient ihm, „der die Ereignisse kennen will, die ihn bedrängen oder ängstigen, der wis sen will, wie es kam und wie es ausging"^), allerdings kleinweltlich und lokalbedingt, da sich die eigentliche wissenschaftliche Zeitgeschichte mit den großen Ereig nissen und sie bestimmenden Persönlichkeiten zu be fassen hat. Gleich seien die Schwierigkeiten angezeigt, die sich der Erforschung und Darstellung der jüngsten Ge schichte, also der Zeitgeschichte entgegenstellen wie: die Unsicherheit der Quellen- und Literatur-Lage, der Mangel an zeitlichem Abstand oder Distanz, eine Ver strickung des Historikers (auch Kirdienhdstorikers) in die politischen Verhältnisse, vor allem bei meinungsund Wahrheitsunterdrückenden totalitären Systemen, die Unübersichtlichkeit der Geschehnisse und Personal handlungen, nicht selten auch hochgespielte Stimmun gen der Umgebung, eine gewisse Unfertigkeit der Zu stände und Vorgänge, die Unverläßlichkeit und Sub jektivität mündlicher und schriftlicher Bezeugungen, Manipulation der Massenmedien (Zeitung, Zeitschrift, Radio, Fernsehen)'^), berufliche Abhängigkeit u. n. a. Und doch unterstreicht J. R. von Salis, „daß der Historiker davor nicht resignieren darf. Ihm ist auf getragen, aus dem Rohmaterial, das von Presse, Rund funk, Fernsehen, Film und Massenpsychose willkürlich und tendenziös zum Zweck der Beeinflussung und Pro paganda in die moderne Menschheit (bis in den klein sten Raum) lautstark geschleudert wird, einen sach lichen, zuverlässigen Bericht über die vergangenen Ge schehnisse zu gewinnen"®). Der Einwand etwa, daß die Distanz zum behandel ten Gegenstand fehle, mag mit dem Hinweis zu ent kräften sein, daß in jedem Zeitalter zeitgeschichtliche Werke entstanden sind, die der Geschichtswissenschaft und Geschichtsdarstellung bis heute unschätzbare Dienste geleistet haben. Beispiele könnten dafür zur Ge nüge angeführt werden. Wohl aber bildet die Unfertig keit der Zustände und Vorgänge den berechtigten Ein wurf gegen eine Darstellung aus jüngstvergangener Zeit. „Der Geschichtsschreiber weiß ja nie, was noch folgt, was einmal historisch bedeutsam und wirkungs voll sein wird. Er muß daher behutsam vorgehen, be vor er eine Hierarchie der historischen Werte aufstellt. Er soll nicht den Propheten spielen, so verlockend es sein möge, sondern in den eben vergangenen Jahren jene Erscheinungen feststellen, die von unzweifelhaft geschichtlicher Bedeutung sind®). Der Darsteller der Gegenwartsgeschichte hat wei ters die Aufgabe, die Geschichte durch Analyse zu entmythisieren und zu entheroisieren, damit ein illusions loses und möglichst wahres Bild von Menschen und Dingen entsteht. Freilich muß er dabei oft sogar lieb gewordene Wunschvorstellungen zerstören. Auch da für gäbe GR BeiRpiclc genug'). „Nicht als Mithandelnder,aber als Erkennender hat der Historiker an allem teil. Diese ehren- und verant wortungsvolle Teilhaberschaft erfordert jedoch jene Eigenschaften, die Adolf Freiherr von Knigge (1752 bis 1796), den J. R. von Salis als Autorität vorführt, so for muliert hat: „Kaltblütigkeit, d. h. sich nie zu vergessen, nie sich zu übereilen; den Verstand nie dem Herzen, dem Temperament, der Phantasie preisgeben; Vorsicht, Verschlossenheit, Wachsamkeit, Gegenwart des Geistes, Unterdrückung willkürlicher Aufwallungen und Gewalt über Launen"®). Anders gesagt, sich einen „Riecher" bewahren, mit kritischem Sinn beobachten, oder klas sisch ausgedrückt, sine ira et studio vorgehen, und weil es um die so heikle und nicht ungefährliche kirch liche Zeitgeschichte geht, den verantwortungsbewußten und seither immer wieder zitierten Rat des großen Kulturpapstes, Geschichtsförderers und Cicero-Bewun derers Leo XIII. befolgen: „Nequid falsi dicere audeat et non audeat", da nur so auch die kirchliche Zeit geschichte ernstgenommen und wirksam zu werden vermag. Servilität und Triumphalismus seien endlich ausgeschaltet und überwunden, so vor allem, was die

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