Wiener Diözesangeschichte 1960 - 1996

Milde hatte krankheitshalber seine Professur für Pädagogik an der Wiener Universität aufgeben müssen und im März 1811 die Pfarrei Wolfpassing V. U. M. B. übernommen. Obwohl er in dieser Zeit noch mit der Abfassung des zweiten Teiles seiner Erziehungskunde beschäftigt war, begann Milde mit der Anlage eines Ingedenkbuches für die Pfarre Wolfpassing, das bis einschließlich fol. 7 von ihm stammt. In der Einleitung gibt er Aufschluß über den Sinn und die Bedeutung seines Vorhabens. „Es ist angenehm, es ist nützlich, oft sogar nothwendig, die Geschichte der Vorzeit des jenigen Platzes zu wissen, auf dem man stehet. Die Geschichte der Familie nun gehet durch mündliche Erzählung vom Vater auf den Sohn fort. Die Ge schichte der Pfarreien kann nur durch schriftliches druckerzählen(?) sich erhalten, da den Vorfahren so selten sein Nachfolger kennt, da der Vorfahre gewöhn lich gestorben ist, ehe der Nachfolger gekannt wird. Es war meines Herzens sehnlichsten Wunsch zu wis sen, wer meine Vorfahren waren, wie sie gelebt, warum sie so gelebt haben. Ihr Leben hätte ich gerne zu meiner Lehrweise gemacht, ihre Fehler hätten mich gewarnt, ihre Tugenden ermuntert. Oft kam ich in Verlegenheit über Rechte und Pflichten der Pfarrer, und die Vergangenheit hätte mir Aufschluß geben können. Ich sah oft deutlich, daß die Pfarrer verküx'zet und betrogen waren und mußte es dulden, weil ich nichts erweisen konnte, da kam der Gedanke oft lebhaft in meine Seele, wie wichtig die Geschichte der Pfarren für jeden Nachfolger ist. Ich fand nichts als ein von dem letzten verstorbenen Pfarrer E... Z... geschriebenes Gedenkbuch. Obwohl es unvollständig und unordentlich ist, so freute ich mich doch, bis ich mich leider überzeugte, daß dasselbe unzulässig ist. Er schrieb oft, was ihm behagte und blieb der Wahrheit nicht getreu. Die Ursachen, die ihn dazu bewogen und die Absichten, die er hatte, wurden mir erst dann klar, als ich erfuhr, daß er durch mehrere Jahre die Pfarre zu verkaufen(?) oder gegen Vorbehalt zu re signieren willens war, und deswegen das Erträgnis der Pfarre übertrieben willkommen machte, um einen anderen dazu zu haben. Ich entscholß mich deswegen niederzuschreiben, was ich finden und erfassen konnte, um meinen Nach folgern einen großen Dienst zu erweisen, den ich von meinen Vorfahren so schwer vermisse. Ich sammelte die wenigen Notizen, die ich fand, wollte etwas voll ständiges liefern, aber es ist Gottes Wille nicht. So viel ich im Stande bin, will ich aufzeichnen,um wenig stens meinen guten Willen zu beweisen. Es ist doch angenehm und nützlich, das Wenige zu wissen. Er gänzt und verbessert, führt dasjenige fort, was ihr hier findet. Ich kenne zwar die Nachfolger nicht, aber ich liebe sie, liebet auch Eure Nachfolger, und sorget für sie mehr, als ich für sie sorgen kann."®) Mit seinen Nachforschungen und Aufzeichnungen wollte Milde also erfahren, wer seine Vorfahren gewesen, wie und warum sie so gelebt hatten. „Ihr Leben hätte ich gerne zu meiner Lehrweise ge macht..." Dieses Anliegen, durch die Geschichtskenntnis^) eine Anleitung zur Bildung bzw. Selbst bildung zu gewinnen, nahm Milde in den zweiten Teil seiner Erziehungskunde auf, der während dieser Zeit in Wolfpassing entstand. So äußert er sich zur Geschichte als einem Bildungsmittel: „Nitsch... sagt sehr richtig, wo er von der Erziehung der Römer spricht: ,Die leblosen Bilder der großen Vorfahren wurden stillschweigende Erzieher ihrer Enkel.'"Und in einer späteren Arbeit hebt er besonders hervor, daß „es sich nicht um das trockene Erlernen einer Ge schichte, sondern um die Bildung des Herzens han delt."®) Indem er alte Dokumente und Papiere sammelte, wollte Milde sich aber auch Klarheit über die recht lichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Pfarre verschaffen, um damit gleichzeitig seinen „Nachfolgern einen großen Dienst zu erweisen". Wie lebendig und dynamisch Mildes Geschichts verständnis ist, zeigt seine Anrede an seine Nach folger in den Ingedenkbüchern der Stadtpfarre Krems. Im Jahre 1814 hatte Milde diese Pfarre erhalten und er begann auch hier mit der Anlage von Ingedenk büchern. Bis zu seinem Fortgang von Krems im Jahre 1823 entstanden acht umfangreiche Bände, deren erster Band die erwähnte folgende Anrede enthält: „Allen meinen Nachfolgern in der Pfarre Krems mein Gruß und Segen. Lieber Nachfolger! Nimm mit gutem Herzen an, was ich mit gutem Herzen gebe! du erhältst nicht Alles, was ich dir zu hinterlassen Willens war; aber du erhältst doch etwas, was an sich nicht unwichtig ist, dir nützlich und ange nehm seyn wird. Durch 8 Jahre habe ich alle freyen Stunden meines Hierseyns dieser Sammlung der Ur kunden meiner lieben Pfarre gewidmet, und itzt muß ich unvollendet lassen, was ich so gern vollendet hätte. Es ist Gottes Wille, und sein WiUe geschehe! Gott rufet mich von hier, und der Schmerz der Tren nung von meiner Pfarre wird durch den Gedanken vermehret, daß diese Arbeit vieler Jahre unvollendet ist. Vielleicht wird Einer meiner Nachfolger fortsetzen, vollenden, was ich angefangen habe. Dieser Gedanke ist mein Trost. Ich will dir lieber Nachfolger! einiges über die Entstehung, Entwicklung, Bestimmung und den Ge brauch dieser Sammlung der Urkunden deiner Pfarre sagen. Ich war entschlossen, im Stillen zu wirken, und mein Wirken auf meine Pfarre zu beschränken, meinen Nachfolgern wollte ich zugleich einen kleinen Dienst erweisen. So entstand der Gedanke, die Geschichte meiner Pfarre zu schreiben. Mir sollte sie eine angenehme und nützliche Beschäftigung, meinen Nachfolgern ein blei bendes Denkmal meiner Liebe seyn. Ich fand eine große Menge Papiere zerstreut in meinem großen Hause, mit Staub bedecket. Alte be zahlte Conten der Handwerker und wichtige Verträge der Pfarrer waren unter einander geworfen. Ich fand ein auf Papier und ein auf Leinwand geschriebenes Verzeichniß meiner Vorfahren, allein sehr bald sah ich, daß sie unrichtig waren. Sogar die Portraiten der Vorfahren waren verwahrloset und zerstreuet im Hause. Die weitere Verwahrlosung zu hindern war mein erstes Bestreben. Der gewesene Sekretär und Archivar des Magistrates der Stadt Krems Johann Mathias Puchberg hatte im Anfange des 18. Jahrhun derts mit vielem Fleiße die Urkunden des Stadt archives gesammelt und Ingedenkbücher verfasset, die nach ihm von anderen fortgesetzt wurden, und in 9 Foliobänden bis zum Jahre 1771 reichen. Leider war der erste Band, der die ältesten Urkunden bis zum Jahre 1460 enthielt, verloren gegangen. Der Magistrat, dessen Vertrauen und Achtung ich mir zu erwerben glücklich war, war so gefällig, daß er mir nicht nur diese Bücher anvertraute, sondern auch die Einsicht der Urkunden des Stadtarchives gestattete. Dieses Ver trauen des Magistrates hat mich umsomehr erfreuet, so selten in kleinen Städten Eintracht, Vertrauen und Wohlwollen herrschen. Ich habe dieses Vertrauen durch manches Opfer, durch manche Überwindung zu erwerben und zu erhalten gesuchet. Zum Danke habe ich die Urkunden bis zum Jahre 1460, die ich in dem Stadtarchive fand, abschreiben lassen, und soviel es möglich war, den verlorenen ersten Band der In gedenkbücher hergestellet, und dem Magistrate über geben. Ich durchsuchte ferner die Urkunden und Schriften des Archives der Pfarre, und ließ die wich tigeren abschreiben. Ich zeichnete mir alle Nachrichten und Angaben auf, die ich in historischen Büchern von den Städten Krems und Stein fand. So sammelte ich nach und nach die Materialien zu der Geschichte meiner Pfarre, denn diese Geschichte war mein Zweck. Du siebest daher Lieber Nachfolgerl daß ich das, was ich eigentlich leisten wollte, noch nicht angefan gen, sondern nur vorbereitet habe. Wundere dich rücht, daß ich nach 8 Jahren nicht mehr geleistet habe. Ich mußte manches dicke Buch lesen und fand oft nicht 19

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