Wiener Diözesangeschichte 1960 - 1996

nur durch umständliche Rechnereien erkennen läßt. Auf einfachen Zahlenverhältnissen und einfachen geo metrischen Gebilden — dem gleichseitigen Dreieck, dem Sechsech, Zwölfeck, Achteck — ist aber die alte deutsche Steinmetzenkunst begründet. Sulpiz Boisseree, dem wir die Erhaltung und den Ausbau des Kölner Doms verdanken, hat herausgefun den,daß dieses herrliche Bauwerk des Meisters Gerhard von Rile auf der Maßzahl 25, beziehungsweise 50 auf gebaut ist. 50 römische Fuß ist die Breite des Haupt schiffs, 3 X 50=150 Fuß die Gesamtbreite der fünfschiffigen Kirche, 9 X 50=450 Fuß deren Länge. Das Verhältnis der Länge des Querschiffs zur Gesamt länge der Kirche beträgt 5:9, das ist die „deutsche Symmetrie", der „vornehmste und höchste Stein metzengrund des Triangels". Die Höhe des Chors ent spricht der Breite der Kirche. Zu der Länge des Ganzen verhält sich die Höhe wie 2:5, und dasselbe Verhältnis gilt für das untere Geschoß bis zu dem First der kleinen Dächer, für das obere Geschoß vom Dachfirst bis zum Kreuz der Spitzgiebel auf den Fenstern. Die Höhe der fünfgeschossigen Türme sollte etwas mehr als die Länge der Kirche betragen, so daß mit der Verkürzung für den Beschauer von einem angemessenen Standpunkt aus die Höhe der Türme der Länge der Kirche gleich erscheint. Ungefähr hundert Jahre jünger als der Entwurf zum Kölner Dom ist der schon durch die Beibehaltung der romanischen Westfront mit den Heidentürmen und der dadurch bedingten Verlegung der Hochtürme in das Querschiff höchst originelle Bauplan für unsre Stephanskirche. Zehn Jahre vor der Grundsteinlegung zum sogenannten „Rudolfinischen Langhaus" (7. April 1359) war bereits die Weihe des „Albertinischen Chors" (23. April 1340) erfolgt. Wir können den Mann nicht nennen, auf den der Baugedanke zu unserm Dom zurückgeht. Es muß aber ein tiefsinniger Theolog und Mathematiker gewesen sein, denn er wählte zur Schlüsselzahl die XXXVII. Nach der im Mittelalter verbreiteten symbolischen Weltansicht offenbart sich in der X das Kreuzzeichen und Christus, in der XXX die Dreifaltigkeit, in der VII die Zahl der Schöpfungs tage, der Gaben des Heiligen Geistes und der Sakra mente; in der Ziffernsumme 3+7=10 die Zahl der 10 Gebote. 37 durfte also dem in das göttliche Geheim nis sich versenkenden Geist als eine hochheilige Zahl erscheinen. Für den Mathematiker ist sie eine soge nannte Primzahl, weil sie durch keine andre Zahl teil bar ist; wenn man sie aber mit 3 und dessen Viel fachen multipliziert, ergeben sich wunderbare Pro dukte; 3X37= 111; 2X 3X37=222; 3X3X37= 333; 4X 3 X 37=444 usw. Die Ziffernsumme jedes einzelnen Produkts (1 +1 +1=3, 2+2+2=6 usw.) zeigt wieder jene Zahl an, mit der man die Grund zahl multipliziert hat. Wenn man auch, wie angenom men wird, im 14. Jahrhundert zur Kunst des Multipli zierens noch nicht vorgerückt war,sondern in umständ licher Weise addieren mußte, war doch das Ergebnis der angedeuteten Rechenoperationen kein anderes. Man wird nun nicht wenig überrascht sein, diese Zahlenverhältnisse bei unserer Stephanskirche wieder zufinden. Die Breite des Längsschiffes ist 3 X 37= III Fuß (35 Meter). Die Breite des Längsschiffes, ver mehrt um die Breite der beiden turmtragenden Quer schiffteile ist 2 X 3 X 37=222 Fuß (70 Meter). Die Länge der Kirche 3X3X 37=333 Fuß (110 Meter). Die Höhe des Turmes 4X 3 X 37=444 Fuß (140 Meter). Das Verhältnis der Gesamtbreite zur Gesamtlänge be trägt demnach 2:3, dem entspricht wieder die Höhe des Mittelschiffes X 3 X 37=74 Fuß (24 Meter). Genau so wie beim Kölner Dom gibt es auch bei Sankt Stephan kleine Abweichungen von dem zu grunde liegenden Idealmaß. So ist der Südturm statt 140 Meter nur etwa 136,7 Meter hoch, das Mittelschiff ist um ®/t überhöht, auf 28 Meter, die Seitenschiffe sind um i/ii erniedrigt, auf 22 Meter. Wie viele Meister in der Zeit von 1340 bis zum Ende des 16. Jahrhunderts an der Ausführung des Baues, auch je mit einem mehr oder minder deutlich hervortretenden persönlichen Anteil, tätig waren, so hat doch keiner das Grundmaß des uns unbekannten Schöpfers und damit die Grundeinheit des Baues ge ändert. Es wäre an dieser Stelle zu ermüdend, in der gleichen Weise, wie es Boisseree für den Kölner Dom getan hat, die Verhältnisse aller Bauglieder durchzu rechnen; es muß dies in der Bauhütte von Sankt Stephan wohl geschehen sein, doch sind die Zahlen meines Wissens nicht veröffentlicht worden, sie sind auch in dem betreffenden Band der „Oesterreichischen Kunsttopographie", dem modernen Standardwerk, nicht zu finden. Aber unsere wenigen Hinweise werden schon deutlich gemacht haben, auf welch strengen Zahlen- und Maßverhältnissen das beruht, was den ästhetischen Eindruch des Wohlgefallens an unserm herrlichen Dom in so hohem Maße erweckt. Anmerkungen: •) Neues Wiener Tagblatt, 74. Jg., Nr. 316 V. 15. November 1940, S. 4. — O. Professor der neueren deutschen Literaturgeschichte an der Uni versität Wien (geb. 7. November 1875, gest. 9. Juni 1959 in Wien), Mitherausgeber der Deutsch-österreichi schen Literaturgeschichte, 4 Bände. 79. Der „Glockenriß" von St. Augustin Dr. Viktor Flieder Als am 25. Mai 1967 die große Wiener Fronleich namsprozession, der traditionsreiche „Stadtumgang" an der altehrwürdigen Kirche zu St. Augustin vorüber zog, erregte es bei vielen Teilnehmern Erstaunen und Verwunderung, daß die dortige große Glocke schwieg und nicht, wie seit einem vollen Jahrhundert, den Herrn im Sakrament mit ihren vollen und melodischen Tönen begrüßte. Im folgenden soll über die Geschichte dieser Glocke und ihr nunmehriges Schweigen berichtet werden®). Die gotische Augustinerkirche besaß als Bettel ordenskirche, obwohl sie von Anfang an mit einem Hofkloster verbunden war"''), keinen Turm, sondern nur einen Dachreiter. Erst Kaiser Ferdinand III. ließ im Jahre 1652 einen barocken Turm erbauen, der mit einem Geläute von vier Glocken versehen war®). Dieser Turm brannte am Abend des 31. Oktobers 1848 ab, als infolge der Beschießung des revolutionären Wiens durch die kaiserlichen Truppen der Dachstuhl des Bibliothekstraktes der Hofburg zu brennen begann und sich das Feuer rasch über das anschließende Dach werk von St. Augustin ausbreitete. Während Hof bibliothek und Kirche gerettet werden konnten, gelang es nicht, die Glutnester im unübersichtlichen 43

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