Wiener Diözesangeschichte 1960 - 1996

Sah man sich nun vom Ordinariat aus veranlaßt, spezielle Vereine®') und auch Bruderschaften besonders zu empfehlen, so mußte doch allmählich bei der da maligen Gründungs- und Stiftungsfreudigkeit®"), der Ab- und Zersplitterung, Überschneidung und Paralleli tät der Betätigungen und Ziele eine Einschränkung, Koordinierung und Einigung angestrebt werden. Und diese so heikle und energieerfordemde Aufgabe scheint sogar dem Koadjutor direkt gestellt worden zu sein, wie dann seine „Weisungen für die in der Erzdiözese bestehenden katholischen Vereine" am 3. Jänner 1911 klar erkennen lassen®"). Nach dem Hinweis, daß dem göttlichen Heiland besonders die Einigkeit der Seinen am Herzen lag, in der Einigkeit die Macht liegt und auf diesem Grundsatz auch das katholische Vereins leben baut, und der Erklärung, daß auch für die ein zelnen Vereine, die sich unter der katholischen Flagge in der Erzdiözese bilden, der Grundsatz gilt: Ut sint unum, sie sich daher nicht gegenseitig hemmen und in der Arbeit stören dürfen, sondern auf das gemeinsame Ziel, Hebung und Förderung der katholischen Überzeu gung hinarbeiten und sich unter der Aufsicht und Lei tung des Oberhirten zu einer geistigen Einheit zusam menfinden sollen, heißt es voll autoritativ: „Darum verordne ich, daß fürderhin in Bezug auf die katholi schen Vereine folgendes beachtet werde: 1. Jeder Ver ein habe für die Statuten die Genehmigung des f. e. Ordinariates anzusuchen oder dies wenigstens inner halb von drei Monaten nachzuholen. Auch die bisher approbierten Vereine hätten dies zu tun. 2. Jeder Ver ein habe jährlich einen kurzen, in sechs Punkte ge gliederten Tätigkeitsbericht einzusenden. 3. Es sei von jeder Publikation ein Exemplar an das Vereinsarchiv des f. e. Ordinariates abzugeben. 4. Eine Vereinsauf lösung bedürfe der Zustimmung des Ordinariates. 5. Jeder Pfarrer solle ein genaues Verzeichnis der in seiner Pfarre bestehenden katholischen Vereine führen und diese wenigstens einmal im Jahr besuchen und durch Aufmunterungsworte fördern. Bei den kanoni schen Visitationen sollen die Dechanten auf die Pflege des katholischen Vereinslebens jedesmal ihr Augen merk richten. Das Ordinariat reserviere sich das Recht, durch eigene hiezu bestellte f. e. Kommissäre die Vereine zu überwachen. 6. Gleichartige Vereine sol len ähnlich dem Kathol. Gesellenverein Diözesanverbände gründen und die Statuten vorlegen". — Ab schließend wird „namentlich im Hinblick auf die große Macht, welche die antichristlichen Parteien durch ihre strammen Organisationen erlangt haben", allen Weltund Ordenspriestern nach dem Dank für ihre opfer volle Vereinsarbeit nochmals empfohlen, die bestehen den Vereine unter ihren Schutz zu nehmen und vor allem solche für die so gefährdete, der Schule entwach sene Jugend ins Leben zu rufen und eifrig zu pflegen Dadurch werde ein wichtiger Zweig der modernen Seelsorge ausgeübt. Unterzeichnet: Franziskus, Erz bischof-Koadjutor. Wie das Wiener Diözesanblatt in der Nummer 3 vom 26. April 1911®') vermelden konnte, kam es dann zur Konstituierung des „Katholischen Volksbundes", dem die Aufklärung und Heranbildung des Volkes im katholischen Geiste, die Aiheit von Mann zu Mann obliegen, und der nichtpolitischen Katholikenorganisa tion, die dem Schutz der katholischen Religion und ihrer Rechte, der Verteidigung der Kirche mit ihren Angehörigen gegen Angriffe und Beleidigungen dienen sollte. Die Organisation und Aufstellung von Ver trauensmännern (35 Delegierte der Wiener Bezirke und die Delegierten der 25 Landdekanate) sollte bis Ende August d. J. durchgeführt sein. Daß das Interesse für die Katholikenorganisation auch in den meisten Pasto ralkonferenzen Ausdruck und Förderung fand, wurde mit Genugtuung festgestellt®®). Wie es den Koadjutor drängte, darüber hinaus möglichst bald seine ihm anvertraute Herde kennenzu lernen, erweist sein ihn richtig verzehrender Eifer bei den Visitationen, mit denen er sogleich begann und die er sosehr betrieb, daß er in der Tat in den drei Jahren seiner Wiener Wirksamkeit nahezu die ganze Erz diözese bereiste®®). Das durch Landflucht und den allgemeinen Zug in die Großstadt bedingte alarmierende Ansteigen der Bevölkerungszahl innerhalb der letzten zwei Jahr zehnte vor allem in den Wiener Monsterpfarreien mit über 40, 50, 60 und sogar 70.000 Seelen, wie die Volkszählung nach dem Stand vom 31. Dezember 1910 erschreckend deutlich machte®"), erzwang als dringli che Maßnahme eine moderne Seelsorgsorganisation, worauf der berühmte Pastoralprofessor an der Wiener theol. Fakultät Prälat Dr. Heinrich Swoboda®') hinwies und wofür er den wissenschaftlichen Unterbau lieferte, so in seinem Hauptwerk „Großstadtseelsorge" (1911, 2. Aufl.). Es wurden deshalb nicht nur Pfarrsprengel änderungen in Wien und auf dem Lande vorgenom men®^), sondern auch neue Pfarren errichtet®"), was freilich bei der engen Bindung an den Staat etwas schwerfällig erfolgte; weiters wui'de eine neue Deka natseinteilung projektiert®') und durch neue Dekanate auch verwirklicht®®). Als besonders aktuell wurde die Notwendigkeit imd Aktivierung des Wiener Allgemei nen Kirchenbauverelns erkannt und ausgesprochen®®) und so konnte ein erkleckliche Zahl von Kirchen und Kapellen geplant, grundgelegt, im Bau fortgeführt oder vollendet und geweiht werden®'). Besonders lag dem Koadjutor die zur bleibenden lebendigen Erinnerung an den glanzvollen eucharistischen Kongreß geplante Eucharistische Gedächtniskirche im XX. Wiener Ge meindebezirk,am Herzen, deren Ausgestaltung er je doch nicht erleben sollte®®). Beim Mangel an Gottes häusern wurde zur rascheren Abhilfe auch durch Not lösungen gesorgt und wurden Notgottesdienststätten ge schaffen, wofür als überzeugendes Beispiel die „schwimmende Kirche" im Wiener Winterhafen der Donau-Dampfschiffahrtsgesellschaft, wo an die 280 Schiffe mit etwa 1300 Schiffsbewohnem überwinterten, angeführt®®). Da diese Leute im Winter selten und auch in geringer Zahl in die entlegene Kirche kamen und im Sommer während des Dienstes und der Fahrten keine Gelegenheit zum Kirchenbesuch hatten, richtete der zuständige Pfarrer von Kaisermühlen auf einem der Schiffe einen Notgottesdienst ein, was ihm dank dem Entgegenkommen des Hafenkapitäns und dor Direktion der Gesellschaft auch gelang. Das Magazin eines Schleppers wurde ausgeräumt, darin ein Altar tisch aufgestellt, Bilder und Schmuck brachten die Leute selbst herbei. Am 8. Jänner (1911) konnte schon die erste hl. Messe zelebriert werden. Bald wurde auch ein Religionsunterricht für die Kinder eröffnet. Dabei stellte sich heraus, daß manche noch nicht die hl. Kom munion und nicht wenige Erwachsene auch noch nicht 35

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