Wiener Diözesangeschichte 1960 - 1996

Vision „Gemeinde"-ihre versuchte Verwirklichung in der Pfarre Machstraße Ein Rückblick aufdas Konzil Von Paul Weß „Wir glauben, daß jetzt nicht nur eine Tiieorie, sondern der im Konzil erneuerte Geist der Kirche selbst danach drängt, sich aufder Ebene der Pfarre zu verifizie ren." - So lautete der Schlußsatz der „Überlegungen zur Pfarrseelsorge", die ich für einen kleinen Kreis von Priestern der Erzdiözese Wien ausformuliert hatte'. Wir waren alle 1962 von Kardinal König geweiht worden und trafen uns regelmä ßig, um unsere Tätigkeit als Kapläne in verschiedenen Wiener Pfarren zu reflek tieren und daraus Konsequenzen zu ziehen. Dabei standen wir natürlich ganz unter dem Einfluß des Konzils imd waren von der Aufbruchsstimmung geprägt, die damals die Kirche erfaßt hatte. Damit hing es sicher zusammen, daß zwei wesentliche Visionen des Konzils, nämlich die für das gemeinsame Priestertum nötige Mündigkeit der Christen im Glauben und die Gemeinschaft, in dem von uns entwickelten Konzept einer Er neuerung der Pfarrseelsorge im Sinn des Konzils eine grundlegende Rolle spielten. Es ging uns um die Bildung von überschaubaren Gemeinden von Christen, die auch im Glauben erwachsen geworden sind und daher als Träger und Leitbild der Pastorai in der Pfarre wirken können. Meine Mitbrüder Bernhard van Baaren und Peter Zitta und ich erhielten - als erstes Priesterteara - 1966 von Kardinal König die Erlaubnis für den Versuch, unsere Ideen in der neu errichteten Pfarre zum Hl. Klaus von Flüe in der Machstraße in Wien2zu verwirklichen. Hier war der Begirm äußerst positiv. Viele waren beeindruckt von den gemein schaftlichen Formen der Liturgie und den Möglichkeiten des Kontakts und der Mitsprache. Wir selbst hatten die Hoff nung, daß zumindest die Gottesdienstteilncluner(iimen) durch die Gestaltimg des Pfarrlebens und entsprechende Verkündi gimg sich bewegen lassen werden, Ge meinden zu bilden, deren Kennzeichen die gegenseitige Liebe ihrer Glieder ist (nach unserem Motto Joh 13,35) und in diesen alle Verantwortung für das Leben und Wirken der Gemeinschaft überneh men. Bald mußten wir feststellen, daß sehr viele sicli zwar durchaus sehr wohl fillilten in den äußeren Formen eines solchen Gcmeindelebens, aber nur sehr wenige sich wirklich aufdie nötige Vertiefung im Glauben und die Verbindliclikeit untereinander einlassen konnten oder wollten, Daraufliin ging Peter Zitta 1971 nach München zur Integrierten Gemeinde, in der beides verwirklicht ist. In der Pfarre Machstraße wurde zu Pfingsten 1972 die Frage an die Gottesdienstteilnelimer gestellt, wer nun wirklich eine Gemeinde im angestrebten Sinn bilden will. Als sich nur 35 Personen meldeten und eine ,dvleßgruppe" bildeten, um es zu versuchen, kam es zu lebhaften Auseinandersetzungen über die Frage, ob die Vision „Gemeinde" in einer Pfarre überhaupt realistisch ist. Als der Pfarr gemeinderat sich im Jänner 1973 doch für die Gemeinde als Zielvorstellung ent schied, verließ Bernhard van Baaren die Pfarre. Die Spannungen zwischen der Pfarre und der nun entstehenden Gemeinde konnten bald abgebaut werden. In dieser gab es einerseits ganz wunderbare pfingstliche Erfahrungen und auch ein Wachstum in der Zahl (1977 und 1989 mußte geteilt werden), andererseits aber auch immer wieder schwerwiegende iimere Probleme. Selm bald standen die Grundlagen des Glaubens zur Debatte: Wie unterscheidet sich das Christentum von anderen Humanismen(Verhältnis von Vertikale und Horizontale)? Andere Fragen waren; Unter welchen Vorausset zungen kann man zu einer solchen Ge meinde gehören und in ilir mitentschei den? Wie kommen Entscheidungen zu stande (kleinster gemeinsamer Nenner, Melirheit)? Welche Stellung hat der Prie ster in einer Gemeinde mündiger Chri sten? Auch über moralische Fragen wurde intensiv gestritten. Eine Gemeinde,in der alle miteinander verkünden und uirken wollen,muß sich auch darin einig sein. Um diese Fragen zu klären und die nötige gemeinsame Basis zu erreichen, arbeiteten wir bis 1988 im Theologischen Kreis an einer Zusammenstellung der „Geisteshaltungen in einer Gemeinde", die durch eine persönliche Entscheidung der einzelnen in Kraft treten sollten. Sie wurden zwar noch als dem Evangelium entsprechend anerkannt, aber nicht mehr verbindlich übernommen,sondern werden nur als ,Jülfe zur Gewissensbildung" angesehen. Seilher ist das iimere und äußere Wachstum der Gemeinde zum Stillstand gekommen. Das hängt natürlich auch damit zusammen, daß alle älter und müde geworden sind imd es nicht gelang, die Jugend zu gewinnen. Außerdem war ims die ganze Tragweite einer verbind lichen Glaubensgemeinschaft nicht von Anfang an bewußt. Für mich ist es inzwi schen zur Frage geworden, ob nicht einer großen Zahl von Menschen guten Willens die natürlichen Voraussetzungen für eine Gemeinde im Sinn des Neuen Testaments fehlen (Urteils-, Kritik-, Konflikt-, Entscheidungs- und Bindirngsfähigkcit) und von ihnen auch in absehbarer Zeit nicht erworben werden können. Allerdings habe ich nach wie vor die Hoffnung, daß im Umkreis wirklicher Gemeinden diesbe züglich mehr an weiterem Wachstum möglich wäre. Mit diesem Erfahrungshintergrund ei nes Versuches, das Konzil in einem win zigen Teil der Kirche in die Praxis umzu setzen, sehe ich die Bedeutung desselben heute so: Es ist und bleibt ein gewalliger Anstoß für die nötige Erneuerung der Kirche im Simi des Neuen Testaments. Aber es ist in mehrfacher Hinsicht erst ein Anfang: 1. Es hat aus seinen Visionen in we sentlichen Punkten keine Konsequenzen gezogen: Olme eine Erwachsenentauferneuenmg der als Kinder Getauften gibt es keine Mündigkeit im Glauben und kein gemeinsames Priestertum. Olme verbind liche überschaubare Gemeinden wird Kirche nicht zur Gemeinschaft. Der Vatikanjoumalist Hansjakob Stehle hat es in einer Femsehsendimg am 5. April 1986 so formuliert: ,J!)ie Weichen sind gestellt, aber die Geleise sind nicht gelegt wor den." Man könnte fortfahren: Deshalb bleibt der Zug stecken, und manche wol len aufdie alten Geleise zurück. 2. Aber auch die Weichenstellung selbst erfolgte nur halbherzig. Im obigen Bild gesprochen: Es wurden „Spring weichen" konstruiert, die vom jeweiligen Lokführer (Amtsträger) in die bisherige oder in die neue Richtung gestellt werden können. Das gilt vor allem von dem Ver hältnis der Hierarchie zur communio, insbesondere des Primats zur Kollegiali tät. In einer vom Papst der Kirchenkonsti tution beigefügten Bemerkung heißt es sogar, daß der Papst allein entscheidet, ob er allein oder kollegial entscheidet. Der jetzige Papst hat sich für das erste entschieden. Vermutlich wollte man mit dieser „zwiespältigen Ekklesiologie"^ die Zustimmung einer großen Mehrheit der Konzilsväter erreichen. Aber die nachkonziliaren Konflikte wurden damit vor programmiert. Olme ein neues Konzil wird sich das nicht bereinigen lassen'. 3. Durch die längst fallige Öffnung für die kritischen Fragen der modernen Welt (Religions-, Bibel- und Kirchenkritik) sind nach dem Konzil die vielen durch Jahrhunderte außerhalb der Maueni der Kirche aufgestauten Probleme in grund legenden Glaubensfragen (Gotteslelire, Bibelauslegung, Cliristologie, Erlösungs lehre, Kirchenbild, Amtsverständnis) in ilu selbst aufgebrochen. Sie wurden aber noch lange nicht gelöst. Es ist nicht einmal klar, wie die Lösung gefunden werden soll (vgl. 2). Das hat eine große Venmsicherung und viele Konflikte ausgelöst. Daran ist natürlich nicht das Konzil schuld, sondern die Kirche hat es schon vorher lange Zeit verabsäumt, sich diesen Fragen zu stellen. Nun brechen sie umso stärker auf. Auch die umstrittenen unter den Bischofseniennungen der letz ten Zeit dienten nur dazu, eine bestinunte Meinung in Glaubens- und Moralfragen durclizusetzen. Hier steht der Kirche noch ein mühsamer Prozeß der Auseinander setzung bevor. In dieser dreifachen Hinsicht war das

RkJQdWJsaXNoZXIy NzM2NTQ=