Wiener Diözesangeschichte 1960 - 1996

spüren, als sie den ganzen Sommer lügen mußte. Anfangs Mai wurde sie auf staatliche Anordnung um eine Stunde vorgedreht und im September wieder eine Stunde stehen gelassen. Man tat dies hauptsäch lich wegen des Lichtverbrauchs in den Städten. Das Landvolk blieb konservativ beim Alten und kehrte sich nur bezüglich der Kirche und Post daran. Man erzählte sich scherzend, daß die Bauern stets zwei Uhren im Sack hatten, links die „alte Zeit", rechts die „neue Zeit". Mit der Ablieferung der Glocken hörte natürlich auch der gewohnte Stundenschlag auf. Von der Orgel waren laut Auftrag alle Zinnpfei fen abzuliefern, doch kam das Gott sei Dank nicht mehr zur Ausführung. Der Kirchenbesuch war im Kriege ziemlich gut. Da die Männer fast alle im Feld standen, sah man aber meist nur Frauen, Greise und Kinder. Hätte der Krieg nur ein Jahr gedauert, so wären bezüglich der Religion sogar gute Folgen zu bemerken gewesen; doch 4—5 Jahre waren wirklich eine zu schwere Be lastungsprobe. Viele fingen zuletzt an, an der Güte Gottes zu zweifeln, und mieden das Gotteshaus. Ande ren fehlte es an Kleidern und Schuhwerk und so lichteten sich im Herbst 1918 schon beträchtlich die Reihen. Stets sah man auch unsere feldgrauen braven Urlauber mit wettergebräunten Gesichtern, hagerer Gestalt und schimmernden Tapferkeitsmedaillen auf der Brust im Kirchlein, stets von den Bekannten freu dig angestaunt. Viel könnte die Kanzel vom Krieg im Hinterland erzählen. Unzählige Worte des Trostes, des Patriotis mus, der Ermunterung zum Durchhalten, der Beruhi gung, der Ermahnung zur gegenseitigen Aushilfe flös sen von ihr herab und ich muß es sagen: Auf der Kanzel und im Herzen des Pfarrers hatte die Heimat liebe, die Liebe zum alten Herrscherhaus ihre wärmste Wohnstätte aufgeschlagen. Der Staat brauchte zum Kriegführen stets Geld und wieder Geld; achtmal feuerte ich bei Fredigten die Leute zur „Kriegsanleihe" an, und was hier nach großen Mühen zuwegegebracht -wurde, ist hauptsäch lich auf die Agitation von der Kanzel zurückzuführen. Einmal ging ich von Haus zu Haus und brachte eine Viertelmillion Kronen Anleihe auf, aber unter wel chen Demütigungen! Oft predigte ich wieder fürs „Rote Kreuz", dann für den Fonds der Kriegerwitwen und Kriegerwaisen etc. etc. Fast schien mir das e-wige Betteln von der Kanzel herab zuviel — doch die Zeit forderte es. Gehen wir bei der Betrachtung der Kirche weiter! Das Ewige Licht war aus ölmangel 1918 gänzlich er loschen, nachdem man einige Zeit vorher sich mit einem eigens konstruierten, der Ampel eingefügten Petroleumlämpchen geholfen hatte. Ein trauriger An blick! Auf den Seitenaltären standen keine Leuchter mehr, weil es an Kerzen gebrach und auch am Haupt altar las ich schließlich die hl. Segensmesse nur mehr bei den zwei oberen Kerzen. Der Mesner war eingerückt, aber sein Weib ver sah mit einem braven Ministranten den Kirchen dienst. Man mußte sich eben helfen, wie es ging! Auch das Chorpersonal war dezimiert und bestand nur aus opferwilligen Frauen. Ihnen ist es zu danken, daß man überhaupt noch Hochämter und Requien halten konnte. Einen recht traurigen Anblick boten stets die Soldatenrequien, deren ich wohl über 40gratis**)—für jeden Gefallenen und im Kriegsdienst Verstorbenen — zelebrierte. Wir hielten jedem Braven (Helden) zu Hause eine ehrende Leichenfeier, wobei es viel Tränen, Leid und Weh und doch wieder Trost gab. Eine arme Witwe wurde während des Trauergottesdienstes ohn mächtig. Die Bitten am Sonntag vor dem Hochamt wie: Eine gewisse Person bittet für gefallenen Mann oder Sohn oder Bruder... oder um eine glückliche Rück kehr aus dem Felde oder aus der Gefangenschaft etc., wollten oft kein Ende nehmen. So erinnerte jeder Fleck im Kirchlein an den Krieg, unsichtbar und unzählbar aber blieben die Trö stungen, die in ihm als der einzigen Trostquelle in dieser Zeit der Tränen, den gequälten Pfarrkindern wurden. Was das Wirken in der Schule anbelangt, hat der Krieg entschieden sehr ungünstig auf die Disziplin der Schulkinder gewirkt. Ungehorsam, Diebstahl, selbst Einbruch, mit Hunger motiviert, Widersetzlichkeit gegen Lehrer ereigneten sich immer wieder, so daß man fast machtlos dagegen war. Die Väter waren in der Regel eingerückt, die Mütter zu schwach. Lehrer N. stand im Feld, Lehrer N. war in Kriegsgefangen schaft und der aus Lehrermangel eingeführte Halb tagsunterricht, leistete der Disziplinlosigkeit der Schuljugend mächtigen Vorschub. Ich habe mich in meiner zwanzigjährigen Seelsorgsarbeit nie po ge ärgert wie in den Kriegsjahren mit der Schuljugend. Die Schulmesse ging fast ein, da die Kinder keine rechten Kleider hatten und weil eine straffe Aufsicht fehlte... Die Pfarrkanzlei war gar häufig eine Stätte der Tränen. War ein Pfarrkind gefallen, so nahmen die Anverwandten den ersten Weg zum Pfarrer und klag ten und beweinten ihr Leid, Ich tröstete, so viel ich konnte. Auch die Soldaten kamen gern, sowohl die Neueinrückenden als auch die Urlauber und die ließen sich mit ihren Auszeichnungen gern beloben, erzähl ten von Erlebnissen und sprachen ihren Ekel am Kriege und ihre Hoffnung auf baldigen Frieden aus. Ich gab als kleine Anerkennung oft und gerne. Die Kriegsgefangenen, vor allem die Polen, kamen eben falls gern in die Pfarrkanzlei. Sie freuten sich, wenn ich in der Filialkapelle X. die hl. Messe las und sangen laut ihre wehmütig klingenden Lieder und gaben über haupt ein gutes religiöses Beispiel... Sie kamen auch geschlossen in die Pfarrkirche und standen bei Hoch amt und Predigt stramm im Mittelgang... Auch die Italiener kamen ins Gotteshaus und sagten immer wieder, sie hätten den Krieg nicht gewollt..." *) Im Süden der Wr. Erzdiözese. *•) Bei einer Zahl von etwas über 1300 Katholiken. Herausgeber, Verleger und Eigentümer: Erzb. Ordinariat, Wien I, Rotenturmstraße 2. — Verantwortlicher Schriftwalter: Univ.-Prof. Dr. Franz Loidl, Wien I, Rotenturmstraße 2. — Druck und Versendung: Mechitaristen-Buchdruckerel. Wien Vn, Mechitaristengasse 4.

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