den gedruckten Vorträgen „Wesen und Aufgaben der Politik" und „Der gegenwärtige Stand der Weltpolitik" sowie „Der christliche Staatsmann". Für die Politik sieht er als entschei dend die Frage an, „was für die Allge meinheit das Nützlichere ist"". „Der Staatsmann ist schließlich jener, der weiß, was der Staat ist und was er braucht, und der dieses sein Wissen siegreich zur Geltung zu bringen ver mag"«. Durch das Geschehen des Ersten Weltkrieges und seine Folgen wurde Seipel tief bekümmert. So suchte er nach Lösungen für die Zukunft, die der Gefahr der Einseitigkeit entgehen würden. Schon 1916 wünschte er: „Möge nach dem Kriege eine starke, selbständige, programmsichere katho lische Friedensbewegung einsetzen! Gegen Ende des Krieges betonte er in einem Vortrag „Die Versöhnung der Nationen als Vorbedin^ng der Völ kerverständigung". Seine Überzeu gung war es, daß Völkergemeinschaft und Völkerrecht nur dann eine Zu kunft hätten, wenn die Staaten so viel von ihrer Souveränität aufgäben, daß „über ihnen für die Autorität einer höheren Gemeinschaft Raum bleibt"". Ein so verstandener Völkerbund fand in ihm einen entschiedenen Befürwor ter". Zur Tagung der Völkerbundver sammlung im Jahre 1930 hielt Seipel in Genf eine Predigt, in der er die Idee des Völkerbundes durch augustinische Gedanken stützte"; dies zu einem Zeitpunkt, da Sorge um den Weltfrie den nicht unbegründet war". Eben diese Sorge bildete einen Schwer punkt des Denkens Seipels. Er widme te ihr als Honorarprofessor an der Wiener Universität eine vielbeachtete Vorlesung „Der Friede. Ein sittliches und gesellschaftliches Problem", die nach seinem Tod in Buchform veröf fentlicht wurde. Daß er für die Ver pflichtung des Christen auf den Frie den neben anderen auch eigentlich theologische Gründe beibrachte, ist nicht erstaunlich. Den Staat sah er so sehr mit der Friedensaufgabe beladen, daß er geradezu eine neue Definition des Staates versuchte: „Die Staaten sind jene Gemeinschaften von Men schen, die die Aufgabe und die Macht haben, den Frieden zu erhalten"". Un ter diesem Gesichtspunkt wurde die Staatslehre für ihn zur Lehre vom Frieden und bestand alle Staatskunst darin, den Frieden zu bewahren". Als wichtigste Grundlage für das Frie denswirken des Staates sah Seipel dessen Bindung an das göttliche Ge setz an. Er wollte zwar nicht leugnen, daß auch eine Gesellschaft, die nicht das Bewußtsein einer solchen Gebun denheit hat, dem Frieden dienen kann. „Unwahrscheinlich ist es freilich, daß eine gottfremde Gesellschaft den Frie den dauernd erhalten wird"®®. Ent schieden betont Seipel die Geltung der sittlichen Gnindsätze auch im Leben der Gesellschaften, der Staaten und der Völker und lehnt er jede Doppel moral („Daß für die Gesellschaft und im Interesse der Gesellschaft etwas er laubt oder sogar notwendig sein soll, was im privaten Leben unerlaubt ist") ab®'. Schindler, der Ende September 1917 in den Ruhestand trat, erreichte, daß das Kollegium seiner Fakultät als seinen Nachfolger „unisono et unico loco" Ignaz Seipel vorschlug und daß dieser tatsächlich berufen wurde®®. Der Berufene wählte als Thema seiner Antrittsvorlesung, die er am 5. No vember 1917 hielt: „Die Bedeutung des neuen kirchlichen Gesetzbuches für die Moraltheologie"®®. Für eine ungestörte Lehrtätigkeit blieb ihm in Wien allerdings nicht lange Zeit. Abgesehen davon, daß er nach dem Tod des Salzburger Fürst erzbischofs Dr. Kaltner für dessen Nachfolge ins Gerede kam®', wurde er bald zu politischen Aufgaben heran gezogen. Kaiser Karl ernannte ihm am 27. Oktober 1918 zum Minister für so ziale Fürsorge im letzten kaiserlichen Kabinett (Lammasch), mußte ihn aber schon am 11. November 1918 wieder entheben, nachdem sich am 30. Okto ber 1918 eine Deutschösterreichische Staatsregierung unter Führung von Dr. Karl Renner gebildet hatte®®. Seipel stand nun vor der Frage, ob er zur Professur zurückkehren sollte®®. Nach Ausrufung der Republik zog ihn die Christlichsoziale Partei zu Pro grammberatungen und zur Ausarbei tung eines Wahlprogramms heran und stellte ihn als Kandidaten für die Wahl in die Konstituierende National versammlung auf". Seipel wurde am 16. Februar 1919 zum Abgeordneten gewählt®®. Damit begann für ihn eine Tätigkeit, die ihn voll in Anspruch nahm, da ihm mit der Zeit nicht nur die Aufgaben des Abgeordneten und des Parteiobmanns®®, sondern auch die des Bundeskanzlers übertragen wimden. Er war Bundeskanzler vom 31. Mai 1922 bis zum 8. November 1924 und vom 20. Oktober 1926 bis zum 3. April 1929, später Außenminister vom 30. September bis zum 29. November 1930®®. So entschloß er sich schon 1919 zur sauberen Lösung, auf die Profes sur zu verzichten und sich ganz der Politik zu widmen; ab dem Winterse mester 1919/1920 war er an der Fa kultät nur mehr als Honorarprofessor tätig®'. Soweit ihm die Zeit blieb, be schäftigte er sich in jenen Jahren der politischen Tätigkeit in Vorträgen und Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln mit Themen des staatlichen und des politischen Bereiches, vorwiegend mit politischen und gesellschaftlichen Grundsatzfragen«. Das Gesamtwirken Seipels kann hier nicht gewürdigt werden. Be dauerlich, wenn auch verständlich, ist es, daß Absichten und Worte Seipels, der natürlich auch seine schwachen Seiten hatte, im leidenschaftlichen po litischen Kampf mißverstanden und mißdeutet wirrden®®. Nach dem Brand des Justizpalastes (15. Juli 1927) pran gerte man ihn unter Sinnentstellung eines Ausspruches, den er im Parla ment getan hatte, als „Prälaten ohne Milde" an"*, Schwer litt er unter der Kirchenaustrittspropaganda, die von sozialistischer Seite entfacht wurde; wenn man ihm als Politiker nicht bei kommen konnte, wollte man ihn we nigstens als Priester treffen. Seipel starb am 2. August 1932 in Pemitz. Die Reinheit seiner Absichten und seiner Lebensführung anerkannte nach seinem Tod auch sein erbitterter Gegner Otto Bauer®®. Erfreulicherwei se gestehen heute auch Leute, die kei neswegs einer Voreingenommenheit verdächtigt werden können, zu, daß man ihm Unrecht getan hat. Anmerkungen: ') F. Rennhofer, Ignaz Seipel, Mensch und Staatsmann. Eine biogra phische Dokumentation, Wien 1978. ") K. V. Klemperer, Ignaz Seipel, Staatsmann einer Krisenzeit, Graz 1976. ®) I. Seipel, Franz Martin Schindler, in: Jb. der Österr. Leo-Gesellschaft 1924, 41-48, hier 43. Rennhofer (wie Anm. 1) 4, 9-11. ®) Ebd. 12. ®) Ebd. 13f. ") Ebd. 10, 20. ®) Ebd. 21-25. *) Ebd. 26-31. '") Ebd. 39-50. ") Ebd. 103. «) F. Zehentbauer, Franz Martin Schindler und die Leo-Gesellschaft, in: Jb. d. Österr. Leo-Gesellschaft 1924, 173-182. «) Zehentbauer, ebd. 176f.; F. Fun der, Aufbruch zur christlichen Sozial reform, Wien 1953, 77-82, 86. ") Rennhofer (wie Anm. 1) 32, 40f. '®) E. Müller, Theologia Moralis ^in. Recognovit et auxit Ignatius Seipel, Vindobonae1914. '®) Vgl. ebd. VIII, X. ") Rennhofer (wie Anm. 1) III. '*) E. Müller-I. Seipel-J. Ujä6, Theologia Moralis 'T, Ratisbonae 1923. '*) K. A. Huber, Franz M. Schindler - ein „Reformkatholik"?, in: König steiner Studien 25 (1979) 161-184, hier 174. ^) Th. Sommerlad, Das Wirt schaftsprogramm der Kirche des Mit telalters, Leipzig 1903. ") I. Seipel, Die wirtschaftsethi schen Lehren der Kirchenväter, Wien 1907, III. -) Ebd. Ulf. ") Ebd. 1-48. -®) Ebd. 49-119. ■') Ebd. 120-189. ®®) Ebd. 190-248. -') Sommerlad (wie Anm. 20) 215. ®®) Seipel (wie Anm. 21) 304. -®) Rennhofer (wie Anm. 1) 32. ®") I. Seipel, Soziale Frage und so ziale Arbeit, Linz 1917. ") Rennhofer (wie Anm. 1) 522. '-') Vgl. I. Burjan-Domanig, Hilde gard Burjan. Eine Frau der sozialen Tat, Salzburg 1950. - Ganz für Gott und ganz für die Menschen. Hildegard Burjan, hrsg. von der Caritas Socialis, Wien o. J. (1983). - Personalstand der Erzdiözese Wien 1981, 465. 21
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