Wiener Diözesangeschichte 1960 - 1996

neue Amtnur zur Befriedigung meines Ehrgeizes oder in einer bloßen Scheintätigkeit ausübe." 12./8.18. „In Salzburg Rieder zum Erzbischof gewählt." 14./8.18. „...Heute wurde mir recht klar, daß die Salzburger Erzbischofs wahl gar nicht anders ausfallen konn te, als wie es geschehen ist. Es standen wahre Tugend mit wirklicher innerer Größe und äußere Tätigkeit, die doch nur hohles Blendwerk ist, einander gegenüber. ... So wie ich gestern und heute wieder bin, ohne jede geistige Spannkraft,wäre ich jedenfalls für al les höhere Wirken ganz und gar unge eignet. Und daß das höhere Amt mich über mich selbst erheben würde, ist doch nur Selbsttäuschung. Das Beste für mich wäre doch eine ganz stille Schreibtischarbeit. Stundenlang an Müller (Theologia moralis) arbeiten, beruhigt und erfreut mich wirklich."® Am Sonntagabend des 1. Juni 1924 wurde Seipel am Wiener Südbahnhof, aus Neudörfl im Burgenland kom mend, von einem 28jährigen Hilfsar beiter aus Pottenstein durch zwei Schüsse verletzt. S0.1./6.24. „Um 2 Uhr nachm. mit Geßl nach Neudörfl gefahren. Bis Wr.Neustadt Südbahn, dann Auto. Rede in der Versammlung anläßlich der Fahnenweihe des Burschenbun des. Zurück mit Geßl und Millenkowich. Am Südbahnhof Attentat. Jaworek. Ins Wiedner Krankenhaus ge bracht." D0.3./7.24. „Nach Hütteldorf über siedelt mit Wimmer und Dr. von Nyiri. Inzwischen am 2./6. die hl. Sterbe sakramente empfangen."® Am 15. Juli 1927 kam es,im Zusam menhang mit dem ungerecht empfun denen Ausgang des Schattendorfer Prozesses zu Ausschreitungen, welche im Brand des Justizpaiastes gipfelten. Sein entschlossenes Verhalten brach ten dem Bundeskanzler heftige Angrif fe, vor allem auch auf sein Priestertum,ein. Der „Prälat ohne Milde", wie man ihn nannte, wurde zum Arbeiter feind gestempelt. Die damals propa gierte und mit seinem Namen in Zu sammenhang gebrachte Kirchenaus trittsbewegung machte Seipel viel zu schaffen. Am 8. August 1927 begann er in Lainz mit Exei-zitien. In diesen stil len Tagen schrieb er in sein Tagebuch, was ihn offensichtlich sehr bedrängte: M0.8./8.27. „Um 8.15 abends Be ginn der hl. Exerzitien. ...Im Anschluß an den ersten Vortrag: Einiges, was ich tun muß: Visitatio vor Verlassen des Hauses, bei der Rückkehr, nach Tisch, abends; ernstlich beten auf der Fahrt. Bereit sein, das politische Le ben unter Niederlagen aufzugeben, nicht nur aus Trägheit. Beherrschung der Eitelkeit, Beherrschung der Ner ven; nicht Erbitterung über die Men schen,die mich in Anspruch nehmen." Di.9./8.27. „Um 7 Uhr in der Kirche am Hochaltar zelebriert. ... 1/2 9 Uhi* 2. Vortrag: Tag der Reue. Wir Priester sind bestimmt die Knechte mit den fünf Talenten. a. Nachdenken über die Gnaden,die wir empfangen haben. Was hätte aus uns werden können, wenn wir mit ih nen mitgewirkt hätten! Die besonde ren Gefahren, zu entgleisen, die für mich bestanden hätten und in der mich die Gnade Gottes vor dem Ärg sten bewahrte. Der Reiter über den Bodensee bin ich wiederholt gewesen, b. Die Verantwortung für die Verwen dung der Talente. Sie kommt be stimmt. Sie ist vielleicht schon mitten im Gang. Sündenstrafen: leibliches Leiden; seelische Schwächen: Ver blendung, i.e., Entziehung erleuchten der Gnaden; Willensschwäche, i.e., Entziehung stärkender Gnaden.... 1/2 11 Uhr 3. Vortrag: Die Gnaden, die wir für andere bekommen haben. Wie steht es mit meinem Priestertum? Was war ich alles? was bin ich? Wel che Ämter suchte oder mied ich? Wel che priesterliche Funktionen übe ich aus, welche nicht? Wie benütze ich die Gelegenheiten,die sich von selbst auf drängen, auf die Seelen, für Gott, für die Kirche zu wirken? Trage ich eine Schuld, daß sich mein Leben von der Seelsorge wegentwickelt hat? Ist, was ich in meinem Leben erfahre, an Gutem und Bösem und namentlich Ruhm und Schein eine Strafe für eine solche Schuld? Und nun das Ärgernis? Ärgernis durch die Politik, durch Ver säumnisse." Mi.l0./8.27 „Unruhige Nacht mit starken Diabetessymptomen. Um 7 Uhrin der Kirche zelebriert. Tag der Vorsätze: 1/2 9 Uhr: 7. Vor trag: Das Gebetsleben des Priesters. 1/2 11 Uhr; 8. Vortrag: Die Arbeit des Priesters. ... c. Methoden der Arbeit: [besonders angestrichen]: Meine be sonderen Vorsätze: 1. Tägliche Betrachtung; 2. Streng ste Diät (als Mittel der Übung in der Selbstbeherrschung und um mich ar beitsfähig zu machen); 3. Übei-windung jedes Nachgebens gegenüber der Nervosität; daher a. nie unzufrieden sein oder Unzufriedenheit zeigen ge genüber Leuten, die mich aufsuchen, mir schreiben oder sonst meine Zeit in Anspruch nehmen; b. am allerwenig sten gegen meine Beamten,die nur ih re Pflicht tun, wenn sie mir die Wün sche anderer melden oder mich an meine Arbeit erinnern; gegen die Mi nister; gegen die Abgeordneten; gegen alle gleich ruhig,geduldig und freund lich sein; c. die Arbeiten(Verhandlun gen, Reden, Briefe)so vornehmen,wie sie kommen; was im Augenblick zu machen ist, vollkommen machen, auf die Gefahr hin, daß anderes liegen bleibt oder unvollkommen gemacht wird; d. dies soll insbesondere in der Koixespondenz gelten; so viel Briefe als möglich selbst öffnen und dann, wenn tunlich, gleich erledigen; den unaufgearbeiteten Rest jeden Abend dem Beamten übergeben;(am meisten bin ich nervös oder i'echthaberisch, wenn ich von anderen eine Kiitik er fahre oder auch nui' befürchte.) 4. Wieder zu der Praxis zurückkehren. Reden und andere Arbeiten zu über nehmen, soweit irgend die Zeit dazu reicht; keine Arbeit aber aus Eitelkeit oder einem anderen Motiv außer der Notwendigkeit selbst suchen oder ihre Übernahme selbst anbieten; 5. Nicht so wie in der letzten Zeit die Caritas Socialis und das Superiorat der Die nerinnen des hlgst. Herzens ganz zurückstellen und vernachlässigen. 6. Um das tun zu können, brauch ich Vertrauen auf Gott und Demut: die Erfolge können bei dieser Arbeitsme thode nur von Gott kommen; das Ver sagen darf mich nicht deswegen schrecken, weil es der guten Meinung anderer über mich, meiner Arbeitskimst, meiner Begabung und meiner Klugheit Eintrag tut. 7. Wie kann ich Zeit sparen? Abkürzung der einzelnen Besuche? Dauer der Nachtruhe? Ent behrlichkeit der Mittagsruhe?" Immer wieder kreisen seine Gedainken um seine Verantwortung als Seel sorger und um die Frage der Sühne für vermeintliche Schuld. Immer von neuem bedrückt ihn die Gefahr des Ärgernisses: (11.8., 10.30)...„Die Be trachtung des allerheiligsten Sakra ments ... hat für mich eine besondere Bedeutung, da ich die Besuchung des Allerheiligsten so außerordentlich be gonnen habe ... und da ich,an dem ge rade in der Gegenwart so viele Ärger nis nehmen, bis zum Abfall von der Kirche, etwas tun müßte, um Gott zu versöhnen und anderen Gnaden zu verschaffen. ... Früchte der Verehrung des allerheiligsten Sakramentes; ...d. Seelsorgsgeist: Wenn ich auch nicht Seelsorger im eigentlichen Sinn des Wortes bin, müßte gerade ich Seel sorgsgeist haben und betätigen, schon wegen des vielen Ärgernisses, das an mir mehr als an irgendeinem Geistli chen der Gegenwart genommen wird. Nur wenn ich dafür ein Äquivalent biete, kann ich länger auf dem Leuch ter bleiben,von dem aus ich so viel ge sehen werde. ... Die Betrachtung der Muttergottesverehrung: (11. 8., 17.00) ...Maiia liebt die Priester sehr, weil sie sie bmucht, damit die Wahr heit von ihrem göttlichen Sohn ver breitet wird; damit die Seelen für ihn gewonnen werden; die Priester brau chen die Muttergottes für die schwie rigste Seelsorgsarbeit, in der sonst nichts hilft. Bei dieser Gelegenheit fällt mir ein, daß ich gewisse Men schen ohne Grund wegen ihrer allge meinen Einstellung zur massa damnata rechne, ohne irgendwie an ihi'e Be kehrung zu denken und dafür etwas zu tun.- Politik und Seelsorgel Beten für die Sozialdemokraten, nicht nur verschleiert „für* Freunde und Feinde", nicht nur für die Verführten, sondern für die Verführenden..." Am Abend des 10. August 1927 stellte er sich im Anschluß an den 11. Vortrag: Jesus stirbt am Kreuz, die wesentlichste „Frage, ob ich täglich und am Ende meines Lebens meine Priesteraufgabe so erfüllt haben wer de,daß ich werde sagen können:"Consummatum est, alles ist erledigt,'""' 19

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