Wiener Diözesangeschichte 1960 - 1996

Denn man sieht den Menschen meist nur so,wie er uns entgegentritt.In un serem Fall könnte eine Antwort auf die Frage: Wasfür ein Mensch war Ignaz Seipel? vielleicht unter anderem lauten: Er war,- und das soll Gegen stand der folgenden kurzen Untersu chung sein, - ein Mensch, der ab ei nem gewissen Zeitpunkt seines Lebens fast täglich in sein Tagebuch schrieb. Tagebuchschreiber müssen sich vie lerlei Spekulationen gefallen lassen. Warum schreibt jemand in ein Tage buch?Ist er so einsam oder so verun sichert? Nimmt er sich selber so wich tig oder tut er sich so schwer, mit sich selbst ins Reine zu kommen? Wie dem auch sei: Tagebücher sind eine ganz besondere Quelle. Sie spiegeln immer vor allem die „innere" Organisation eines Lebens wider. Sie bieten in der Regel Aussicht auf erlebnisreiche Be gegnungen mit der verborgenen Menschlichkeit'. Tagebücher sind „Werkstattberichte" des Menschen^ Tagebücher stehen in einer alten kul turellen Tradition. Tagesberichte über die Taten der Götter imd Könige tauchten ebenso früh auf wie die Log bücher der Schiffahrt. Ihre äußere Form reicht von einfachen Notiztagebüchem bis hin zu dichterischen Wer ken und kritischen Betrachtungen über die Welt, wie eine umfangreiche Literatur zum Thema „Tagebuch" be weist. Die Frage nach dem Grad der „Auf richtigkeit" eines Tagebuches läßt sich nicht leicht beantworten.Sie kann nur im Zusammenhang mit der Gesamt persönlichkeit des Schreibers und da auch nur annähernd beantwortet wer den. Tagebuch schreibt eher jener Mensch, der sich seiner selbst verge wissem will. Seine hiebei erfolgte Selbstbeobachtung dient der Selbster kenntnis und fördert unter Umstän den die Selbsterziehung. So zeichnen die meisten der bedeutenden Tage bücher der Welt die „Innewerdung" des Menschen nach. Erst wer sich in nehat, kann es sich erlauben, sich los zulassen, auch oder vor allem für an dere.^. Giundsätzlich aber gilt wohl: Wer Tagebuch schreibt, wählt eine be stimmte Form der Zeit- und Selbster fahrung. Das Tagebuch vermag Ag gressionen abzufangen, Ängste zu be wältigen, das Selbstvertrauen zu stär ken. Vor allem in extremen Lebenssi tuationen kann es zur Überlebenshilfe werden.^ Für Arthur Schnitzler war die Aus sicht auf die, auch testamentarisch festgelegte, Veröffentlichung seines Tagebuches eine große Beruhigung. Er schreibt geradezu von der Verpflich tung, die er seinem Tagebuch gegen über fühlt: „...als könnt es mich von der quälenden inneren Einsamkeit be freien, wenn ich -jenseits meines Gra bes Freunde wüßte." '• Ein wenig abgewandelt, mag dieser Satz auch für Ignaz Seipel zutreffen. Nicht,daß er selbst es zu Lebzeiten so intensiv gebraucht hätte. Aber jenseits der Zeit versteht man vieles, wenn man seine Tagebücher gelesen hat. „Echte" Tagebuchschreiber sind meist von komplizierter Natur. Dies trifft auch bei Ignaz Seipel zu. Nur 5 Tage nach seinem dritten Geburtstag, am 24. Juli 1879, starb seine Mutter. Der kleine Bub fand Aufnahme bei der Schwester seines Vaters, die zu sammen mit ihrer alten Mutter zurückgezogen in bescheidenen Ver hältnissen lebte. Wohl mag es da oft am rechten Verständnis für ein Kind gefehlt haben. Die frohe Heiterkeit ei ner Familie gab es nicht. ... Diese ma terielle und noch mehr seelische Ent behrung der Kindheit war zweifellos mitbeteiligt an der späteren persönli chen Entfaltung Ignaz Seipels in Ju gend und Mannesalter. Die ihm eigene Härte, weniger gegen die Umwelt als gegen sich selbst, die kalte Nüchtern heit und der ihm nachgesagte Mangel an Gefühlswärme haben zweifellos hier ihre Wurzeln.® Im Diözesanarchiv Wien sind insge samt 15 Tagebücher erhalten'. Sie um fassen den Zeitraum vom 29. Mai 1917 biszum 23.Juli 1932,also bis kurz vor seinen Tod. In drei eigenen, von ihm selbst so bezeichneten Reisetagebüchem hielt Seipel die Ereignisse seiner Reisen fest. Ihrer äußeren Form nach sind es eher unauffällige kleine Hefte, oder Kalender, mit peinlich ge nauer Struktur der einzelnen Tagesbe richte,- wobei Meßfeier,Rosenkränze, Betrachtungen eigens festgehalten sind. Inhaltlich sind sie meist knapp gehalten, mit eher wenigen persönli chen Reflexionen über vorkommende Personen. Eindrucksvoll ist die große Zahl von Namen, Kontakten, Besu chen, Tätigkeiten in verschiedenen Ausschüssen, sowie im Klub der Christlichsozialen Partei. Besonders spürbar wird der Zeitdruck in der Zeit seiner Kanzlerschaft. Für verschiede ne anonyme, bzw. pseudonyme Veröf fentlichungen des Kanzlers in der Reichspost bieten die Tagebücher eine unersetzliche Quelle. Die inhaltliche Form ändert sich et wa ab dem Jahr 1927 deutlich: physi sches (Diabetes) und psychisches (im Anschluß an die Ereignisse des Juli) Leiden spiegelt sich wider; nach den Exerzitien im August 1927 sind es streckenweise fast geistliche Bücher, die den zentralen Punkt der Span nung, in welcher der Priester-Kanzler wohl sein ganzes Leben bald mehr, bald weniger, gestanden ist, immer wieder umkreisen und aufzuarbeiten suchen. Das Tagebuch war ganz gewiß eine Art diskretes Vis-a-vis, dem man Din ge wie den genau registrierten Ge wichtsverlust im fortgeschritten Sta dium der Krankheit anvertrauen konnte. Dem man auch - ohne Angst, wortreich bemitleidet zu werden, - seine oftmals über längere Zeiträume hin andauernde grundlos trübe Stim mung mitteilen konnte. Dem gegen über man auch,ohne Angst vor Scha denfreude, persönliche Niederlagen und Demütigungen aussprechen, auf arbeiten und somit ertragbar machen konnte. Die wichtigen Ereignisse seines Le bens, Entscheidungen, Weichenstel lungen, Beförderungen, Ehrungen, Gefährdungen, werden in der Regel nur lapidar kommentiert.Sein innerli ches, sein geistig-geistliches Leben nimmt im Laufe der Jahre, ganz deut lich ab der zweiten Hälfte des Schick salsjahres 1927, immer breiteren Raum ein, seelische Vorgänge werden mitunter bis ins Kleinste analysiert. Das Ende eines jeden Jahres be schließt eine Jahresübersicht mit einer genauen Aufstellung aller geistlichen und weltlichen Funktionen, aller ge haltenen Reden, aller Aufsätze, Thea ter- und Konzertbesuche,aller Reisen, aller durch Krankheit versäumten Ta ge, sowie vor allem die genaue Zahl aller Meßfeiern, Betrachtungen und Rosenkränze. Die letzten Wochen seines Lebens feierte er das Meßopfer meist sitzend, nachdem er zur Kenntnis nehmen mußte, daß ihn das Zelebrieren „äußerst erschöpfte". Aber nur selten und erstam 23.Juli,-11 Tage vor sei nem Tod am 2. August 1932,- zum letztenmal,- mußte er in sein Tage buch eintragen;„Nicht zelebriert!" Ausgewählte Tagebucheintragungen Nach dem Tode des Salzburger Erzbischofs Dr. Balthasar Kaltner am 7. Juli 1918 wurde kurz auch Seipel als möglicher Kandidat genannt. In der Folge kristallisierte sich allerdings immer mehr Weihbischof Rieder als Nachfolger heraus. Trotzdem machte sich Seipel Gedanken: 3./8.18. „Wenn ich trotz aller Gründe, die dagegen sprechen, jetzt zum Erzbischof von Salzburg gewählt werden sollte,so wäre das ein ganz si cherer Beweis, daß Gott von mir eine Amtsführung verlangte, die Rieder oder einem anderen auf weniger auf fallende Weise zum Bischofsamt erho benen ferne liegen wüi'de, Es handelt sich nun darum, herauszufinden, was Gott von mir verlangen dürfte. Meines Erachtens hätte ich nun als Erzbischof von Salzburg zu bedenken I., daß der BISCHOF 1.,seiner Diözese einen ein heitlichen guten Geist einflößen und 2., die Arbeit in diesem Geist beharr lich und so wirksam organisieren muß; II., daß der FÜRST,der der Erzbischof von Salzburg zugleich ist,seinen Platz im Herrnhaus und im Landtag voll auszufüllen hat."... Die beiden Punkte erläutert er ausführlich und schreibt dann weiter: „Sollte nun Gott es fü gen, daß ich diesmal zum Erzbischof von Salzburg gewählt werde, so halte ich mich zur Einhaltung der soeben aufgezeichneten Regeln für verpflich tet. Will Gott das nicht, ist die stillere Tätigkeit Rieders ihm wohlgefälliger und der Kirche, sowie dem Vaterland nützlicher, dann wird er meine Wahl verhindern. Ich bitte Gott auch aus drücklich, dies zu tun; insbesondere bitte ich ihn, er möge es nicht zulas sen,daß ich im Falle meiner Wahl,das 18

RkJQdWJsaXNoZXIy NzM2NTQ=