Wiener Diözesangeschichte 1960 - 1996

Die Kräfte, die die österreichisch ungarische Monarchie letztlich zer stört haben, kommen aus dem Lager des Nationalismus: Wir erleben dessen destruktive Kraft gerade jetzt im ehe maligen Jugoslawien und Teilen der früheren Sowjetunion, aber auch in Afrika. Die Kirche hat auch im alten Österreich sehr viel dazu beigetragen, daß die kulturellen Entwicklungen der einzelnen Nationalitäten gefördert wurden, hat durch ihre vielfältigen Dienste gerade die kleineren Nationen in der Monarchie unterstützt; sie hat sich aber auch gegen jenen Geist ge wandt, der in der Nation einen Höchstwert sieht. In diesem Sinne kam es auch zu einer Konfrontation mit der nationalen Bewegung von Ge org Schönerer.Ignaz Seipel hat in sei nem Standardwerk „Nation und Staat" den Unterschied zwischen Na tionalismus und Patriotismus heraus gearbeitet und in der Liebe zur Nation auch eine hohen Wert gesehen, sofern sich diese nicht mit einer Verachtung anderer Nationen verbindet.^ Seipel hat aber auch das Wesenhafte der Kultur darin gesehen,daß sie über alle Grenzen hinwegwirkt und in diesem Sinn eindrucksvolle Beispiele überna tionalen Denkens im Hochmittelalter herausgestellt. Seipel hat sich immer wieder bemüht, jenem Radikalismus entgegen zu wirken,der in der Nation den obersten Wert gesehen hat und damit jeden Staat ablehnen mußte, der eine Vielzahl von Nationen umfaßt hat. Seipel sagt, daß es sehr verhängnis voll wäre, wenn man das Nationali tätsprinzip zum alleinigen Ordnungs faktor machen würde. Volk, Nation und Staat seien einander nicht überoder untergeordnet,sondern nebenge ordnet.Sie seien verschiedene Organi sationsformen, weil sie aus verschie denen Wurzeln hervorgewachsen sind.' Die Trennung der Kirche vom Staat war nicht nur ein klares Ziel des poli tischen Liberalismus, sondern auch der Sozialdemokratie in Österreich; dies kommt auch deutlich im pro grammatischen Parteitag von Hain feld (1888/89)zum Ausdruck. Religion sollte grundsatzlich Privatsache sein. Die Katholische Kirche konnte in Österreich durch das Konkordat von 1855 nicht nur die Zeit der Abhängig keit vom Staat überwinden, sondern auch maßgebenden Einfluß auf das Schulwesen gewinnen; nach 1870 ging dieser Einfluß weitgehend verloren. Das Staatsgrundgesetz von 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbür ger sicherte einerseits die persönliche Glaubens- und Gewissensfreiheit, an dererseits die korporative Religions freiheit der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften. Dennoch konnten in den letzten Jahren die Katholische Kirche und katholische Organisationen bzw. Per sönlichkeiten immer wieder einen konstruktiven Einfluß auf die Politik nehmen; besonders gilt dies für die Sozialgesetzgebung, deren erete Phase in den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts unter dem Einfluß ka tholisch-konservativer Politiker aus dem Kreis um Freiherr Karl v. Vogel sang zustande gekommen ist. Später hat dann die junge Christlich-soziale Partei diese Politik fortgesetzt, beson ders in Wien unter Bürgermeister Karl Lueger eine zukunftsweisende Kom munalpolitik für eine rasch wachsen de Großstadt entwickelt.'Auch Seipel beeinflußte als Moraltheologe die ge sellschaftspolitische Konzeption des katholischen Lagers. Seipel kommt aus dem Kreis des großen Sozialrefor mers Franz Martin Schindler, dem es immer wieder um soziale Gerechtig keit und zukunftsweisende Lösungen der sozialen Frage gegangen ist. 1918 war Seipel Sozialminister in der Re gierung Lammasch. Gerade im Bereich der Sozialpolitik hat das Gedankengut der Katholi schen Soziallehre - und dies auch vor Erscheinen der ersten Sozialenzyklika „Rerum novarum" 1891 - die Ent wicklung in Österreich positiv beein flußt. Mit der Überwindung der Vor machtstellung des politischen Libera lismus war die Chance gegeben, daß jene politischen Parteien, die eine so ziale Neuorientierung in den Mittel punkt ihrer Politik gestellt hatten, sich durchsetzen konnten. Die Erste Republikversäumte Chancen Die kurze Phase der Zusammenar beit der Christlichsozialen und der Sozialdemokraten von 1918 bis 1920 hat nicht nur der neuen Republik eine demokratische Verfassung gebracht, sondern auch eine beachtliche Sozial gesetzgebung, so die Gründung der Arbeiterkammem,das Betriebsrätege setz und eine sozial bestimmte Arbeitszeltregelung. Am Beginn der Ersten Republik wurde Seipel Abgeordneter, 1921 Ob mann der Christlichsozialen Partei. Ignaz Seipel hat dann als Bundes kanzler und führender christlich-so zialer Politiker sehr viel zur wirt schaftlichen Sanierung und Konsoli dierung dieses Staates geleistet. Daß er in mancher Hinsicht aber auch an den harten innenpolitischen Ge gensätzen der politischen Lager ge scheitert ist, muß als tragisch empfun den werden. Die Erste Republik hat noch nicht jenen Geist einer Kon sensdemokratie hervortreten lassen, der nach 1945 gegeben war; dies aus der leidvollen Erfahrung der Zeit des Nationalsozialismus. Sozialpartner schaft und Kooperation der großen politischen Lager hat die Zweite Re publik geformt. Seipel hatte noch ganz andere ideologische Barrieren: Haß und unversöhnliche Gegnerschaft maßgebender politischer Kräfte, Wirt schaftschaos und soziales Elend nach dem Zerfall der Monarchie. So schwer auch der Neubeginn 1945 war, konnte er doch unter ganz anderen geistigweltanschaulichen Voraussetzungen bewältigt werden. Es war letztlich auch das wieder starke Hervortreten christlichen Gedankengutes, das die sen Geist der Zusammenarbeit be stimmt und geprägt hat. Die Erste Republik hat ein tragi sches Ende genommen. Die Hoffnung, unter Berufung auf die Enzyklika „Quadragesimo anno" (1931) eine neue staatliche Ordnung zu schaffen, hat sich bald als trügerisch erwiesen. Die Enzyklika wollte nicht demokrati sche Stnokturen zerstören. Es war ge wiß für die politische Entwicklung Österreichs von großem Nachteil, daß Seipel 1932 gestorben ist. Seine politi sche Konzeption war durch jenen So zialrealismus bestimmt, der für die Katholische Soziallehre kennzeich nend ist. Die Jahre nach 1934 waren für das Verhältnis von Staat und Kir che schwierig: große Teile der Bevöl kerung sahen in der Kirche eine Stüt ze des autoritären Staates. Der Ständestaat war nicht in der Lage, jene geistige Basis eines echten Konsens zu finden, der zu den besten Errungenschaften der modernen De mokratie gehört. Die gewaltsame Ein führung des Ständestaates ist schon deshalb an der christlich orientierten Konzeption der Berufsständischen Ordnung vorbeigegangen, weil eben eine wirkliche Zustimmung der Ar beitgeber und Arbeitnehmer, gefehlt hat. Auch die ersten Ansätze innerverbandlicher Demokratie in der Ersten Republik wurden im Ständestaat wie der zunichte gemacht. 1926fanden die ersten Arbeiterkammerwahlen statt. 1931 wurden diese wegen der schwie rigen Wirtschaftslage verschoben. Im Ständestaat wurde ein Regierungs kommissär statt des Arbeiterkammer präsidenten eingesetzt.So haben auch die Jahre zwischen 1934-1938 jenes Inferno nicht aufhalten können, das zur Zerstörung der Ersten Republik und zur Ausschaltung der Kirche als gesellschaftspolitisch wirksame Insti tution durch den Nationalsozialismus geführt hat. Die Zweite Republik - Politische Stabilität Nach 1945 konnte jene Ausgleichs politik einsetzen, die aus dem Geist christlicher Soziallehre ebenso kommt wie aus der Konzeption des demokra tischen Sozialismus. Dies kommt be sonders in der 20-jährigen Koalition der ÖVP und der SPÖ zum Ausdruck, wie in der Sozialpartnerschaft. Als Zusammenarbeit der Arbeitgeber und Arbeitnehmerverbände hat sie sich in Österreich zu einem festen Be standteil des politischen Systems ent wickelt und wesentlichen Einfluß auf die Gestaltung der Wirtschaftsord nung genommen, aber auch die Zu sammenarbeit der mit den Arbeitge ber- und Arbeitnehmerverbänden eng verflochtenen politischen Parteien ge fördert. Die Formen dieser Zusam menarbeit der großen Interessensverbände haben sich allmählich ent wickelt, dies nach den jeweiligen Be dürfnissen der Wirtschaftsgesell schaft. So hat die Sozialpartnerschaft 14

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