Wiener Diözesangeschichte 1960 - 1996

sich die Verschiebung der Verhältnisse zwischen Mann und Frau so kraß."(RN 17: Dem Arbeiter den ihm gebührenden Verdienst vorenthalten, ist eine Sünde, die zum Himmelschreit...). Führende Männer der Christlichsozia len Partei waren aufgrund ihres öffentli chen Engagements auf sie aufmerksam geworden.Am 12. März 1919 zieht Hilde gard Burjan als erste christlichsoziale Abgeordnete ins Parlament ein. Bereits am Tage ihrer Angelobung bringt sie einen Antrag aufMutter- und Säuglings schutz ein. Vehement setzt sie sich spä ter gegen die Ungleichbehandlung von Frauen imd Männern im Staatsdienst ein,fordert den Ausbau der Mädchenbil dung und die Errichtung von Fürsor geeinrichtungen für in Not Geratene. Einen besonderen Meilenstein in ihrer politischen Tätigkeit setzt sie durch ih ren Einsatz für ein Hausgehilfmnengesetz, mit dem erstmals sowohl die Rechtsgrundlagen wie auch die Arbeits und Lohnbedingungen dieses Berufs standes geregelt werden (RN 27: ...so muß der Staat durch öffentliche Maß nahmen sich in gebührender Weise des Schutzes der Arbeiter annehmen...). Viel zu früh, im Juni 1920, scheidet Hildegard Burjan,die Kardinal Friedrich Gustav Piffl „das Gewissen des Parla ments" nennt, aus dem politischen Le ben aus, um sich ganzihrem Lebensziel, der Gründung einer religiösen Schwe sterngemeinschaft- Caritas Socialis-zu widmen. Mit diesem „Stoßtrupp Gottes" versucht sie nun, die aus ihrer bisheri gen Arbeit gewonnenen Erfahrungen in die soziale Praxis umzusetzen.Und auch hier geht es ihr vornehmlich um Rand gruppen der Gesellschaft, um die Situa tion der Unterprivilegierten, um die Betreuung von Frauen,die in eine Notsi tuation geraten sind. Es sind dies nicht nur neue Wege, sondern auch bahnbre chende Ideen, die sie dabei mit ihren Schwestern in der sozialen Arbeit be schreitet. Hildegard Buijan war eine Frau,die in das zu ihrer Zeit herrschende gesell schaftliche Frauenbild nicht einzuord nen war, da sie im Agieren und Reagie ren ihrer Zeit weit voraus war. Sie stieß daher nicht immer auf ungeteilte Zu stimmung, sondern sehr oft auf Kritik, auch aus den eigenen Reihen. Sie ließ sich aber dadurch von ihrem Weg nicht abbringen. Sie tat das, zu dem sie sich als Mensch und gläubige Katholikin berufen fühlte. An der Lösung der in der Sozialenzyklika „Rerum novarum" an geschnittenen „wichtigen sozialen Fra gen" mitzuwirken, betrachtete sie auch für sich als Frau in einer von Männern dominierten Gesellschaft als Verpflich tung.(RN 45: Mögejeder Berufene Hand anlegen...). Am Glasfenster in der Wiener Votivkirche sieht der Betrachter Hildegard Burjan im Kreise der katholischen So zialreformer am äußersten Rand stehen. In der sozialen Tat spielte diese Frau aber keineswegs eine „Randfigur". *)Ingeborg Schödl ist Redakteurin der Wiener Kirchenzeitung.Im März 1991 erschien von ihr die aufgrund neuer Recherchen verfaßte Bur jan-Biographie ,.Männerwelten - Frauen werke, Hildegard Burjans Vermächtnis an Politik und Kirche". Seiner Zeit voraus: Michael Pfliegler, ein Wegbereiter des Dialogs zwischen Kirche und Arbeiterschaft Eine Erinnerungzu seinem 100. Geburtstag Von Johann Weißensteiner Am 24. Oktober 1961 wurde Michael Pfliegler - sein Geburtstag (26. Jänner 1891)fiel zufällig in das Jahr des Erschei nens der Enzyklika „Rerum novarum" - die von der Katholischen Arbeiterbewe gung aus Anlaß des 70-Jahr-Juliläums der Enzyklika „Rerum novarum" gestif tete Rerum Novarum-Plakette für seine Verdienste um den „religiösen, sozialen und kulturellen Aufstieg der Arbeiter schaft in Österreich" verliehen'. Damit fanden die unermüdlichen Bemühungen Pflieglers in den zwanziger Jahren, der Seelsorge auch einen Weg zu den(sozia listischen) Arbeitern zu bahnen, die da mals noch oft auf Unverständnis oder sogar Ablehnung gestoßen waren, eine nachträgliche Anerkennung. Pfliegler hat sich schon 1917 in einem Artikel für das Korrespondenzblatt für den katholischen Klerus mit der Arbeiterft-age befaßf^. In den zwanziger Jah ren hat er in mehreren Aufsätzen, vor allem in der Zeitschrift „Der Seelsorger" entscheidend die Diskussion um den Problembereich Kirche, Proletariat, So zialismus, Seelsorge initiiert imd ge prägt^. Pfliegler war zu diesem Zeit punkt Religionsprofessor in Wien und gleichzeitig von 1924 bis 1928 Kuratbenefiziat an der Stadtpfarrkirche St. Peter'. Wie sehr Pfliegler Seelsorger war, zeigt seine nach seiner Übernahme in den Bundesdienst als wirklicher Lehrer mit 1. September 1926 am 22. November 1926 an das erzbischöfliche Ordinariat gerich tete Bitte, weiterhin bei St.Peter wirken zu dürfen: „da ich aber nur schweren Herzens aus der eigentlichen Gesamtseeisorge scheide, bitte ich meinen Ver bleib bei St.Peter mitdem vollen Dienst eines Benefiziatkuraten zur Kenntnis zu nehmen"''. Bei St. Peter war seit 1915 auch Au gust Schaurhofer als Kuratbenefiziat tätig. Dieser war als Diözesanpräses der katholischen Arbeitervereine und Arbei terinnenvereine (seit 1914) intensiv mit den Fragen der Arbeiterseelsorge kon frontiert. 1922 hatte er die Frage „Wie stellen wir uns zum Sozialismus?" in einer Broschüre als Seelsorger zu beant worten gesucht. Über sein Anliegen urteilt Pfliegler in der Neuausgabe der genannten Schrift": „Er sah als Christ zuerst die Sozialisten und dann erst.den Sozialismus. Bezeichnend für den großen, weitherzigen und versöhnli chen Seelsorger ist seine Berufung auf den hl. Paulus, der die Athener zu dem unbekannten Gott führen wollte, dem sie bereits ein Heiligtum gebaut hatten". Diese Schrift hat die erstarrten Fronten zwischen Sozialisten und Kirche tat sächlich in Bewegung gebracht. In der Folgezeit entstand ein Gesprächskreis von Katholiken und Sozialisten, der vor allem von Schaurhofer und Pfliegler getragen wurde. Nach dem Tod Schaurhofers (24. August 1928) führte Pfliegler die Anliegen Schaurhofers fort. Höhe punkt dieser Tätigkeit waren wohl die Adventvorträge Pflieglers vor dem Bund religiöser Sozialisten im Jahr 1930. In den Jahren 1926 und 1927 verfaßte Pfliegler im „Seelsorger" mehrere auf rüttelnde Aufsätze zum Fragenkomplex „Kirche und Proletariat"; wie die im „Seelsorger" abgedruckten Reaktionen zeigen, hat Pfliegler damit tatsächlich „die große Frage"'seiner Zeit aufgegrif fen. Im Aufsatz „Und wieder: Gustos quid de nocte?"® zeichnet Pfliegler ein unge schminktes Bild der religiösen Situation in der Großstadt Wien: „Und unsere Kirchen werden immer leerer. Wien, du katholische Stadt, so gerühmt auf dem ganzen Erdkreis, wo Brüder mit Liebeund heiligem Stolz die Werke Gottes preisen, Wien-in dir kommen nur mehr fünfzehn von Hundert deiner Getauften, um sonntags das Mysterium der Erlö sung zu feiern! Anderswo ist es nicht anders"®. Dann ruft er dazu auf, die „neunund neunzig verlorenen Schafe" zu suchen: „Einmal ist einer ausgegangen, hat die neunundneunzig treuen Schafe zurück gelassen, um eines aus der Wüste zu holen und hat sein Leben hingegeben für das eine - ,Und wahrlich, ich sage euch, es wird mehr Freude darüber sein als über die neunundneunzig Gerech ten'. Und wir hüten daheim das eine Schäfchen und lassen die neunundneun zig in der Wüste.'"®. Im nächsten Aufsatz wendet sich Pfliegler schon konkret der Frage „Mit wem haben wir es zu tun?"" zu und möchte diesen Beitrag als „Versuch einer Antwort auf die Frage: Seelsorge und Proletariat" verstanden wissen. Einleitend stellt er fest: „Viele unserer Mitbrüder stehen in Pfarren, in denen sich die Mehrzahl der Getauften zum Sozialismus bekennt. Von vielen Di özesen, z.B. Wien, gilt es im allgemei nen. An diese Menschen und ihre seeli sche Einstellung müssen wir heran, wenn das:.Gehet hin und lehret alle...' auch uns Verkündigem der Frohbot schaft im zwanzigsten Jahrhundert gel ten soll."Immer wieder geht es Pfliegler 10

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