tes bewegte sich aber vorläufig noch auf der wissenschaftlichen, intellektuellen Ebene.Für die Kraft des Glaubens hatte sich ihr Herz noch nicht geöffnet. Noch während des Studiums heiratete sie 1907 den jungen Diplomingenieur Alexander Burjan, gebürtiger Ungar und ebenfalls jüdischer Herkunft. Ein Jahr nach ihrer Heirat, das junge Paar war inzwischen nach Berlin übersiedelt, erkrankte Hildegard schwer. Insgesamt sieben Monate verbringt sie im Spital. Nach einer letzten Operation, von den Ärzten bereits aufgegeben, geschieht an ihr ein Wunder. Am Ostermorgen des Jahres 1908 ist eine seit Wochen offene und eiternde Wunde plötzlich zugeheilt. Zugleich mit der körperlichen Genesung erfährt sie nach der langen Zeit des Suchens und Ringens auch die Gnade des Glaubenkönnens. Am 11. August 1909 empfängt sie das Sakrament der Taufe. Sie beschließt nun, ihr künftiges Leben „ganz Gott und ganz den Men schen zu weihen". Noch im selben Jahr übersiedelt das junge Paar nach Österreich, wo Alex ander Burjan einen leitenden Posten in der Österreichischen TelephonfabriksAG. in Wien übernimmt. Hildegard, die an den Folgen der Erkrankung ihr gan zes Leben leidet, dazu kommt später noch eine Diabetes, bringt 1910 unter Lebensgefahr eine Tochter zur Welt. Trotzdem sucht sie, da sie sich als Haus frau und Mutter nicht ganz ausgelastet fühlt, bald Anschluß an katholische Kreise. Zu Beginn des Jahrhunderts begannen sich die katholischen Frauenvereine, die sich bislang vornehmlich karitativ enga gierten, auch mit der Frauenfrage zu beschäftigen. Vornehmlich ging es um das Recht der Frauen auf Bildung und Berufsausübung. Aufgerüttelt von dem Gedankengut Vogelsangs setzte man sich aber auch mit der sozialen Frage vor allem im Bezug auf die Situation der Frauen auseinander. Zur Vorbereitung aufden „Ersten Österreichischen katho lischen Frauentag" 1910 in Wien fand eine Vortragsreihe im Rahmen des „So zialen Kurses" statt, in der speziell die sozialen Probleme der Arbeiterfrauen im Mittelpunkt standen. Hildegard Bur jan, die diese Veranstaltungsreihe be suchte, fühlte sich von den Intentionen, die ihren Ideen zum Thema nahekamen, angesprochen. Sie versuchte nun, sich nicht nur intensiver mit der Situation der Arbeiterinnen auseinanderzusetzen, sondern auch Lösungsstrategien zu ent wickeln. Sie begann damals an Ihrem Lebensprogramm zu arbeiten, auf dem sie später dann ihre politische Tätigkeit im Parlament, ihr karitatives Engage ment in der Kriegs- und Nachkriegszeit und die Gründung der Caritas Socialis aufbaute. Die Basis ihres Tuns formu lierte sie so: „Christliche Nächstenliebe und soziale Arbeit müssen zusammen wirken... all unser Handeln und Tun für die Unterdrückten ist nur dann segens reich, wenn es basiert auf den Grund wahrheiten unserer Religion." (RN 22: Indessen die Kirche läßt es sich nicht dabei begnügen, bloß den Weg zur Hei lung zu zeigen... Ihr ganzes Arbeiten geht dahin, die Menschheit nach Maß gabe ihrer Lehre und ihres Geistes um zubilden...). Vor allem drei wesentliche Punkte der Sozialenzyklika „Rerum novarum" ver suchte die tatkräftige Frau im Sinne von mehr Gerechtigkeit für alle zu verwirk lichen: eine gerechte Lohnpolitik, die Gründung christlicher Arbeitervereine als Hilfe zur Selbsthilfe und verstärkten gesetzlichen Schutz, um dadurch die Lohnabhängigen vor Ausbeutung und Not zu bewahren. Zu den Ausgebeutetsten der Gesellschaft zählten in dieser Zeit die Heimarbeiterinnen, meist ver heiratete Frauen mit Kindern, die vor nehmlich in der TextUbranche tätig wa ren. Rechtlich vollkommen ungeschützt, wurden sie von ihren Auftraggebern schamlos ausgebeutet. Ein Wochenver dienst von zwölf Kronen reichte gerade zum Leben, dafür mußte täglich fünf zehn Stunden gearbeitet werden. Mit einigen engagierten Mitstreiterin nen aus dem ,,Sozialen Kurs" begann HUdegard Burjan in mühevoller Klein arbeit durch Hausbesuche die Frauen zu Versammlungen einzuladen. Am Anfang stand die Ablehnung, das Mißtrauen, aber dann wagten es einige Mutige, und am 13. Dezember 1912 konnte bereits der „Verein der christlichen Heimarbei terinnen" in Wien gegründet werden. Hildegard Burjan machte die Frauen in Vorträgen auf ihre Rechte aufmerksam und entwarf mit ihnen einen Forde rungskatalog zur Verbesserung der Lohnsituation. Ihr schwebten vor allem Stellenvermittlungsbüros vor, wo die Arbeit ohne Zwischenschaltung von Vermittlern vergeben würde, „denn ein großer Teil des Lohnes wird von diesen beschlagnahmt und ist eine Ursache des Elends". Innerhalb kürzester Zeit kann sie für die Vereinsmitglieder die Festset zung von Mindestlöhnen erreichen und durch organisierte Großaufträge von Spitalsdirektionen und Militärbehörden tatsächlich Zwischenhändler ausschal ten. Außerdem bot sie den Mitgliedern einen Wöchnerinnenschutz, Unterstüt zung im Krankheits- und Sterbefalle sowie einen unentgeltlichen Rechts schutz(RN 36: Hierher gehören Vereine zur gegenseitigen Unterstützung... zur Hilfeleistung für den Arbeiter und seine Familie bei plötzlichem Unglück...). Bei ihrer Arbeit erkannte Hildegard Burjan bald, daß nicht nur der umfas sende Zusammenschluß aller Heimar beiterinnen notwendig sei, um auf Ge setzesebene etwas in Gang zu bringen, sondern daß diese Vereinigungen auch die Aufgabe haben, das Selbstbewußt sein der Betroffenen zu stärken - „Mit Geld... ist einem Menschen nicht gehol fen, man muß ihn von vornherein wie der aufdie Füße stellen und auch wieder die volle Überzeugung geben: Ich bin jemand und ich kann etwas leisten." Ihr schwebte daher vor, daß den Vereins mitgliedern neben dem Ziel der Durch setzung der Forderungen auch berufli che Fortbildungsmöglichkeiten, Schu lungen, Erholungsangebote usw. gebo ten werden müssen. Großes Augenmerk sollte auch aufdie Festigung der Persön lichkeit auf sittlicher und religiöser Ebene gelegt werden.(RN 42; Die Reli giosität der Mitglieder soll das wichtigste Ziel sein, und darum muß der christliche Glaube die ganze Organisation durch dringen.) In einem Vortrag vor dem „Zweiten österreichischen katholischen Frauen tag" am 16. Aprü 1914-wo sie am Ende ihrer Rede von den aufgerüttelten Zu hörern zur „Heimarbeiterinnenmutter" von Wien proklamiert wurde-skizzierte sie exakt ihre Vorstellungen und ver wies dabei auch eindringlich auf ein mit der Heimarbeiterfrage eng verbundenes Problem-die Kinderarbeit. Ganze Industriezweige, vor allem die TextUbranche, bedienten sich trotz Kinderschutzgesetzen, deren Einhaltung nicht kontrolliert wurde, dieser „billi gen" Arbeitskräfte. Ein 14-Stunden-Tag zählte schon für Sechsjährige zur Regel. Und schon Dreijährige wurden in der Heimtextilindustrie Böhmens und Mäh rens zum Knopfannähen oder in der Haarnetzerzeugung herangezogen. Mit Zahlen und Fakten belegt, konfirontiert Hildegard Burjan die Zuhörer mit der traurigen Realität, die gerne verschwie gen wurde. „Wie bitter muß sich eine solch unnatürliche, allem Christentum hohnsprechende Verletzung der Menschlichkeit rächen." (RN 33: Die Kinderarbeit insbesondere erheischt die menschenfreundlichste Fürsorge. Es wäre nicht zuzulassen,daß Kinder in die Werkstatt oder Fabrik eintreten, ehe Leib und Geist zur gehörigen Reife gediehen sind.) HUdegard Burjan stellte in ihrem Referat nachdrücklich fest, daß diesem „zum Himmel schreienden Pro blem" nicht nur durch die rigorose Kontrolle der Einhaltung der Kinderschutzgesetze beizukommen ist, sondern vor allem über eine gerechtere Entloh nung der Familienerhalter, da diese infolge der bitteren Not gezwungen sind, ihre Kinder zu dieser frühen Erwerbsar beit anzuhalten.(RN 10: Ein dringendes Gesetz der Natur verlangt, daß der Famüienvater den Kindern den Lebens unterhalt und alles Nötige verschaffe...). Der 1914 ausgebrcchene Weltkrieg zwingt Hildegard Burjan, vorläufig an dere Prioritäten in ihrem sozialpoliti schen Konzept zu setzen. Sie richtet Nähstuben und Arbeitsbeschaffungsstel len ein, um den nichterwerbstätigen Familienmüttern einen Unterhalt zu ga rantieren, organisiert Arbeitsaufträge, startet eine Hilfsaktion für die notlei dende Bevölkerung im Erzgebirge usw. Doch bereits 1918, zu Kriegsende, be ginnt sie sich wieder mit der „Frauen frage" auseinanderzusetzen. Vor katho lischen Arbeiterinnen stellt sie fest, daß die Frauen, deren Lebensumstände durch den Krieg völlig verändert wur den, nicht das erste Opfer einer männer orientierten Arbeitsmarktpolitik nach Ende desselben werden dürften. Sie forderte daher schon zu diesem Zeit punkt die Einführung einer Arbeitslo senfürsorge, die Einsetzung weiblicher Gewerbeinspektoren, welche die Arbei terinnen über ihre Rechte informieren sollten, vor allem aber „gleichen Lohn für gleiche Leistung" als vordringlich anzustrebendes Ziel. „Nirgends zeigt 9
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