Wiener Diözesangeschichte 1960 - 1996

beitet werden." Die heftigen Auseinan dersetzungen zwischen den Bischöfen und der christlichsozialen Partei, die in den Jahren 1894/1895 ihren Höhepunkt erreichten, haben die Verwirklichung dieses Planes verhindert.'" So gingen die Bischöfe erst anläßlich der Reichsratswahl 1897, bei der erst mals auch die Arbeiter wahlberechtigt waren, in ihrem Wahlhirtenbrief'® wie der ausführlich aufdie soziale Frage ein; darin heißt es etwa: „Zwar bestehen schon seit Jahren manche segensreich wirkende social-politische Gesetze, vie les bleibt jedoch noch zu thun; große Aufgaben stehen noch bevor, und auf ihre rasche Lösung müssen durch eifrige Mitarbeit euere Vertreter im Reichsrathe dringen. Ihr müßt darum bei der Wahl euer Augenmerk auf Männer rich ten, welche durch Wissen und durch Erfahrung zu dieser Mitarbeit befähigt sind, die Willens sind, dahin zu wirken, daß durch den Fortgange einer guten socialen Gesetzgebung die Schwachen gegen die Starken, die ehrliche Arbeit gegen den unlauteren Wettbewerb ge schützt werde, und ihr dürfet nicht etwa solche wählen, die da meinen, die socia len Kämpfe der Gegenwart lassen sich lediglich durch äußere Machtmittel un terdrücken. Die Noth und das Elend,dessen Zeuge wir zu unserem Kummer täglich sein müssen, gehen aus der Sünde und aus der mangelhaften socialen Ordnung her vor. Die Folgen der Sünde aufzuheben wird uns niemals gelingen... So lange Menschen auf Erden leben, werden darum Noth und Elend hienieden ihre Wohnstätte behalten. Der göttliche Hei land lehrt es ausdrücklich: ,Arme wer det ihr immer bei euch haben'(Matth. 26, 11), und er tritt damit den leeren Vorspiegelungen jener entgegen, welche vorgeben, sie könnten aUe Armuth und Noth aus der Welt schaffen und alle Menschen reich und glücklich machen. Nein, so wenig die Ungleichheit unter den Menschen aufgehoben werden kann, eben so wenig kann die Verschie denheit in deren äußeren Verhältnissen beseitigt werden, und so lange die Welt steht, werden auch Armuth und Noth, werden Elend und Krankheit fortbeste hen. Aber Arme, die Arbeit und Brot su chen und nicht finden; die hungern und niemand fmden, der sie sättigt; Arme, die frieren, ohne Kleidung zu erhalten; Arme, welche sterben, weil sieh ihrer niemand annimmt-solche Arme darfes in einer nach christlichen Grundsätzen eingerichteten socialen Ordnung nicht geben. Denn, wenn auch Noth und Ar muth, die Folgen des Sündenfalles, alle Zeit bestehen bleiben, so werden doch diese Übel durch die Mängel in unserer heutigen Gesellschaftsordnung bis ins Unerträgliche verschärft. Diese Mängel zu beheben,ist die Aufgabe der mensch lichen Gesellschaft, des Staates, der Gemeinde,ja jedes Menschen,der in der Schule Jesu Christi gelernt hat, welch' große Barmherzigkeit er uns erwiesen, und wie ernst er uns befohlen hat, Barmherzigkeit zu üben, Die staatliche Gesetzgebung, die Armenpflege der Ge meinden, die freiwillige, aber geordnete christliche Liebesthätigkeit, sie alle müssen zusammenwirken, um eine sociale Ordnung herzustellen, in welcher keinerlei Armuth und Elend ohne Hilfe bleibt... Katholische Arbeiter, zum erstenmale werdet ihr zur Wahlurne gerufen, um durch Abgabe euerer Stimme Män ner eueres Vertrauens in den Reichsrath zu senden! Von verschiedenen Seiten wird man sich um euere Stimme bemü hen, namentlich von der Seite, welche angeblich allein euere Interessen vertre ten will. Man wird die Kirche und ihre Diener bei euch verdächtigen und ver leumden, man wird euch durch maßlose unerfüllbare Verheißungen und Ver sprechungen zu verlocken suchen, man wird euch sagen, die Zeit der Erlösung aus irdischer Noth sei nahe, die glück lichen Tage seien nun für euch gekom men, wenn ihr nur euere Stimme den Männern gebt, welche behaupten, aliein Arbeitervertreter zu sein. Hütet euch vor solchen falschen Propheten! Sie haben nichts, womit sie ihre Verspre chungen erfüllen könnten, wohl aber können sie eure Lage noch verschlim mern. Nein glaubet vielmehr jenen, die euch und euere Kinder im Glauben der Kirche unterrichten, die bisher euere bewährten Führer waren und stets in allen Nöthen euere treuen Berather sind; die wie für euer geistliches so auch für euer irdisches Wohl ein warmes Herz haben. Von ihnen laßt euch über die letzten Ziele jener Verführer belehren und höret nicht auf Menschen, die euch vorspiegeln, auf den Trümmern von Altar und Thron ein Paradies aufbauen zu können. Wählet Männer,die treu am katholischen Glauben hängen, Männer, die ein Herzfür die Noth und das Elende des Volkes haben und bereit sind, auf gesetzlichem Wege und mit allen recht mäßigen Mitteln den Mißständen abzu helfen,die euch bedrücken.'"^® Als Papst Leo XIII. 1897 sein diaman tenes Priesterjubiläum feierte, verwie sen die Bischöfe in einem aus diesem Anlaß verfaßten Hirtenbrief®' die Gläu bigen auch auf die wichtigen Enzykliken dieses Papstes: indirekt wird dabei auch auf,Rerum novarum'Bezug genommen: „In seinem herrlichen Rundschreiben über die Zusammensetzung der mensch lichen Gesellschaft®® bestimmt er mit unübertrefflicher Schärfe das gegensei tige Pflichtgebiet, zieht mit erleuchteter Weisheit die Grenzen zwischen Pflichten und Rechten der einzelnen Stände, mahnt mit apostolischem Freimuthe Herren wie Arbeiter an die Pflichten der Gerechtigkeit und stellt als das Höchste die christliche Liebe hin, die einzig und allein die Heilmittel gegen die zahllosen Übel der Zeit bietet, welche die Selbst sucht in der menschlichen Gesellschaft angerichtet hat. Und die Worte des Jubelgreises sind nicht fruchtlos ver hallt; sie haben überall ein lautes Echo gefunden, und Tausende segnen heute den Heiligen Vater als den Friedensver mittler in den großen Classenkämpfen der Gegenwart."®-' 1901 gehen die Bischöfe in einem gemeinsamen Hirtenbrief®^ neuerlich auf die soziale Frage ein und mahnen dabei zur Erneuerung eines christlichen Familienlebens als Beitrag zur Linde rung sozialer Not: „Im Namen Jesu Christi, der nach den Werken der Barm herzigkeit den Eintritt in den Himmel gewähren oder verweigern will (Matth. 25, 35fr.), ermahnen wir Euch ferner,daß ein jeder aus Euch nach den ihm von Gott zugewiesenen Mitteln die Wohltä tigkeit im echt christlichen Sinne beför dere und an der richtigen Lösung der socialen Frage nach christlichen Grund sätzen mitarbeite. Pfleget die christliche Nächstenliebe in den Wohltätigkeitsver einen, welche die Kirche gegründet und empfohlen hat und die unter dem Na men des heiligen Vincenz von Paul, der heiligen Elisabeth, des heiligen Philip pus Neri, des heiligen Franz Regis und anderer Heiligen bekannt sind. Die christliche Charitas kennt keinen Unter schied der Sprache und Nation. Sie spricht alle Sprachen der Menschen, sogar jene der Engel, und umfaßt alle Völker der Erde... Gedenket, Geliebte, der herrlichen Mahnschreiben unseres heiligen Vaters, des Papstes Leo XIII., in denen er den arbeitenden Classen die Wege zeigt, auf welchen sie die Wahrung ihrer Rechte und die Beförderung ihrer zeitlichen Interessen erstreben sollen, nicht durch gewaltthätigen Umsturz aller bestehen den Verhältnisse, sondern an der Hand ihrer treuen Mutter und von Gott ge setzten Lehrmeisterin, welche Herren und Arbeitern gleicherweise ihre Pflich ten vorhält. An letzter und bevorzugter Stelle aber erinnern wir Euch, vielgeliebte Diöcesanen, an die so oft betonte, weil so wichtige Wahrheit, daß das wahre Wohl der menschlichen Gesellschaft vorab in der Kräftigung der Wiederherstellung des christlichen Familienlebens be steht... Neben der Regelung der Er werbsverhältnisse durch die Gesetzge bung erblicken wir das wirksamste Mit tel zur Besserung der socialen Nothlage in der Einflößung des christkatholischen Geistes in die Familie. Dieses Mittel vermag auch die sociale Gesetzgebung in die richtigen Bahnen zu leiten."®® 1906, schon unter dem Pontifikat Pius X., mahnen die Bischöfe ihre Priester, soziale Aktivitäten nur unter strenger Wahrung der kirchlichen Autorität und ihrer priesterlichen Würde und Heilig keit zu setzen®": ,Es bleibt noch, einige Worte über die soziale Frage,so weit sie den Klerus betrifft, zu sagen: Nichts ist in der Kirche älter, als das schlechte Los des niederen Volkes nach Kräften zu heben. Dies bezeugen die zahllosen Ein richtungen für Waisen, Kranke und Arme, die in den vergangenen Jahrhun derten entstanden sind. Als Spaltung zwischen Arbeitern und Herren, zwi schen Armen und Reichen,entstand, hat Leo XHI. seligen Andenkens so weise Dokumente herausgegeben, in denen er das Wesen, die Gründe und die Heümittel dieser Frage darlegt, wie man in seinen Enzykliken „Rerum novarum" und „Graves de communi"®' sehen kann. Weil aber die soziale Frage nach dem Zeugnis der Kirche in erster Linie 6

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