Wiener Diözesangeschichte 1960 - 1996

lierte Frage, sondern eine mit anderen verbundene ist. Deswegen war es nicht leicht, einen von allen gutgeheißenen Wegzu finden.Einen wahren Fortschritt brachte in dieser Hinsicht der geniale Sozialreformer Karl Johann Freiherr von Vogelsang, Hauptredakteur der konservativen Zeitung „Wiener Vater land"^. Ihm gebührt das Verdienst, die christliche Sozialreform und Sozialpoli tik in Österreich in die Wege geleitet zu haben", indem er die Massen zur Mitar beit aufrief. In seinem Sinn arbeitete auch der Adel: Die Prinzen Alois und Alfred von Liechtenstein, die Grafen Gustav Blome, Egbert Belcredi, Franz Kuefstein; von seilen des Klerus die Professoren Franz Schindler und Josef Scheicher. Schon bald zeigte diese Vor arbeit Wirkung: Die Gewerbenovellen von 1883 und 1885 waren getragen vom sozialen Ideengut des Kreises um Vogel sang. Damals wurde der Elfstundentag geschaffen und die Sonntagsruhe festge setzt, das Gewerbeinspektorat, die Ar beiterunfall- und Krankenversicherung eingeführt". Aber Vogelsang selbst war Idealist, der aus der historischen Be trachtung das Idealbild gewinnen wollte und wie alle Menschen, die in hohen Ideen leben, den Weg hinüber zur Wirk lichkeit allzu kurzbemaß'". Das Gedankengut, das sich innerhalb des Konservatismus in den letzten Jah ren allseits angesammelt hatte, sollte bald von „obenher" Verwirklichung fin den. Nach Vogelsangs Gesichtspunkten wollte Kaiser Franz Joseph die sozialen Mißstände einer Lösung zuführen": Förderung des Einvernehmens zwischen den Unternehmern und ihren Arbeitern zum Zweck möglichster Ausgleichung sozialer Gegensätze. Pflege der berech tigten Interessen des Kleingewerbes, selbsttätige Mitwirkung des Gewerbe standes. Ausdehnung des Gesetzes der Unfallversicherung des Arbeiters auf weitere Kreise, Ausarbeitung einer Vor lage zur Förderung der genossenschaftli chen Organisation der landwirtschaftli chen Betriebe. In diesem Zusammen hang war die Thronrede Kaiser Franz Josephs'2 vom 11. April 1891 ein Ereig nis ersten Ranges. Die Zeit stand im Zeichen der Enzyklika „Rerum nova rum", deren Promulgation am 15. Mai 1891 erfolgte. Aber gerade dieses Rundschreiben Leos Xin. wurde zum Streitobjekt des Kreises um Kardinal Gruscha und den Christlichsozialen. Beide Seiten belegten es mit Beschlag. Für Gruscha war nur eine Reform von obenher und nicht eine Revolte von unten zur Lösung der sozia len Frage ziellührend. Seine patriarcha lischen Ansichten standen schroff den demokratischen der Christlichsozialen gegenüber. Den Kampfgegen den Chri stenblock führte Gruscha gemeinsam mit dem Dominikaner P. Albert M. Weiß'". Es war eine tragische Erschei nung, daß beide einst in sozialer Hin sicht geistige Väter der Christlichsozia len waren. Dies gilt in der Hauptsache für P. Albert M. Weiß. Es muß in Erin nerung gebracht werden, daß die fi-eie Vereinigung katholischer Sozialpoliti ker, die in den Jahren 1883-1888 in Wien tagte, von P. Albert Weiß mitvorbereitet wurde". In dieser Runde befand sich auch der spätere schärfste Gegner des Kardinals, Prälat Josef Scheicher. Beide zehrten vom gleichen Gedankengut, aber in der Art, wie diese Ideen zum Durchbruch kommen sollten, schieden sich die Geister. Was die Kräfteverteilung betrifft, so war auf selten der Partei mehr Organi sation und mit Rücksicht aufden Zweck mehr Stoßkraft. Dagegen verfügten die Konservativen über eine starke Innen position in Tirol und Oberösterreich. Überdies war die Macht des Herkom mens größer als anderswo: „Österreich war - um einen Ausdruck des Kirchen historikers Ehrhard zu gebrauchen-das letzte Stück Mittelalter"'". Führend bei den Christlichsozialen war Prälat Schindler, Professor der Moraltheologie. Er war zwischen Vogelsang und Seipel das geistige Haupt der christlichsozialen Bewegung in Österreich'". Er vertrat das geistige Erbe Vogelsangs und Luegers Idee, den Katholizismus aus der Verbindung mit der konservativen Par tei zu lösen und gleichmäßig alle Berufs stände zu begeistern. In einem Vortrag vor Leo XIII. verteidigte er den Stand punkt seiner Partei und erreichte ein Ermunterungsschreiben''. Rom im Bunde mit den Christlichso zialen brachte den österreichischen Episkopat in eine kritische Lage, zumal die neue Bewegung im Wiener Nuntius Agliardi einen starken Rückhalt fand"^. Am 2. Februar 1895 reiste im Auftrag der Bischofskonferenz Kardinal Schön born von Prag mit P. Albert Weiß, denen sich später auch Bischof Bauer von Brünn anschloß, nach Rom'". Die Aufnahme dortselbst war nicht gerade freundlich. Nach zweimonatiger Bera tung war die Angelegenheit spruchreifdie Entscheidung entsprach dem kühlen Empfang der österreichischen Delegation^". Leo Xm. wußte jedoch die schwierige Lage des Episkopates und besonders die des Kardinals Gruscha zu würdigen. Er hob zwar die Beschlüsse der Kardinalskongregation nicht gerade auf,sondern stellte sie ein und setzte sie auf diese Weise außer Kraft. Allerdings mit der Auflage, die Bischöfe sollten Hirtenbriefe, die sich auf diesen Streit fall beziehen könnten, unterlassen, da mit die Gemüter sich wieder beruhigten. P. Weiß bekannte später, er habe nie daran gedacht, praktische Gesellschaftspobtik zu betreiben oder gar die sozialen Lehren als Mittel zu öffentlicher, politi scher und Parteitätigkeit zu benutzen'". Das sei auch der Grund, weshalb er die Sozialdemokraten ebenso wie die Christ lichsozialen mit Mißtrauen beobachte.In den praktischen Bestrebungen dieser Parteien sahen Gruscha und er nur einen Mißbrauch des Wortes „sozial". Allmählich kam man zur Erkenntnis, daß die Lösung der sozialen Frage in bezug auf das errungene Gedankengut über den Parteien stehen müsse.Darum erinnerte sich Prälat Scheicher mit Freuden an das Jahr 1897, da in Zürich in „Ruhe und Frieden" die sozialen Klubs der verschiedensten Richtungen zusammen tagten''^: Österreichische Vogelsangianer mit Adler, Pemersdorfer, Dazynski, mit Rudolf Mayer, Axmann imd Bielo, den Schweizer Sozialdemo kraten, der ultrarömische Decurtins und der Grütliverein mit belgischen, franzö sischen und englischen Sozialdemokra ten. Außerdem befanden sich in diesem Zirkel viele Geistliche. Tagsüber trugen die Sozialdemokraten rote Krawatten, aber zur Papstfeier, die von den christli chen Schweizern im Saal des katholi schen Gesellenvereins veranstaltet wurde, erschienen sie mit Krawatten in der päpstlichen gelben Farbe. Es war eine Anerkennung der Tatsache, daß man bei großen Menschheitsfragen das Papsttum nicht ignorieren könne. Ja zeitweise schien es sogar, als ob das Papsttum unter Leo Xin.in der sozialen Bewegung die Führerrolle übernehmen wollte. Im Anschluß an „Rerum novarum" schrieb am 25. September 1891 die Arbeiterzeitung^": „Würde der Katholizis mus den Willen, würde er noch die Fähigkeit haben,zu den verschwomme nen,aber sehr energischen kommunisti schen Ideen des Urchristentums zurück zukehren,dann würde er fähig sein, mit den Mächten von heute endgültig und gründlich zu brechen, um sich der Macht von morgen zu verbünden - wer weiß, ob die katholische Kirche nicht noch einmal ihre alte Zaubergewalt über die Geister auszuüben vermöchte". Pius XI. sah schließlich in seinem Rundschreiben „Quadragesimo anno" die Möglichkeit zur Lösung der sozialen Frage nur in der Zusammenarbeit von Kirche und Staat. Für beide sei aber eine Scheidung des Aufgabenkreises notwendig. Der Kirche kommt die „Sit tenverbesserung" zu, dem Staat die „Zuständereform"'-". Durch Leo XIII. und Pius XI. wurde den Katholiken sowohl in ihrem religiö sen als auch politischen Leben ein gang barer Weg in die Zukunft gewiesen. Anmerkungen: ' Heinrich Reschauer, Geschichte des Kampfes der Handwerkerzünfte mit der österr. Bureaukratie, Wien 1882; zitiert bei August M. Knoll, Der soziale Ge danke im modernen Katholizismus, 1. Bd.,Wien 1932, S.46 f. 2 Anton Gruscha, Zur sozialen Frage, in: Zeitschrift für die gesamte kath. Theologie 3(1852)52. " Vgl. dazu ausführlich Otto Posch, Anton Gruscha und der österreichische Katholizismus 1820-1911, ungedr. Diss. Wien 1947. ' Anton Gruscha, Zur kirchlichen Reform, in: Wiener Kirchenzeitung 7. September 1848, Nr.49,S.247. "Gruscha(wie Anm.2)66. ® Ernst Karl Winter, Artikel „Gru scha", in: Staatslexikon Bd. 2, 5. Auf lage,S.957. 'Franz Loidl, Geschichte des Erzbis tums Wien,Wien 1983,S.262. " Josef Wodka, Kirche in Österreich, Wien 1959, S.338. ® Ernst Karl Winter, Arbeiterschaft und Staat,Wien 1934,S. 17. '0 Ebd.S. 18. "Das Vaterland, Zeitschrift für die

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