chendem Maße.Sie hat ihre Aufgaben in beiden Bereichen vielleicht nicht immer ganz bewältigt. Sie ist, weil sie ja eine Kirche der Wiener und Österreicher ist, der Entwicklung manchmal mehr nach gehinkt als ihr vorangeschritten. Aber immer hat sie gewußt, daß sie Kirche nur sein kann, wenn sie Verbindung mit der Weltkirche und ihrem Oberhaupt hält. Die Verbindung mit dem Volke, das hieß einmal VolkskiTChe. Eine Kirche, die sozusagen hineingewoben war in alle Lebensäußerungen des Volkes: in sein Denken und Fühlen, in Sitte und Brauchtum, in den Glauben und manch mal auch in die Fehlhaltungen des Volksglaubens. In diese Kirche wurde man hineingeboren. Das war die Kirche des Väterglaubens, die Kirche, der der Staat die moralische Erziehung des Vol kes anvertraute, und die sich dem Staat gegenüber verbürgte, brave, anständige und folgsame Staatsbürger zu erziehen. Diese kirchliche Lebensform gibt es heute bei uns nicht mehr, oder sagen wir: es gibt sie nur mehr in letzten Resten. Noch wird man in diese Kirche hineingeboren und hineingetauft. Aber wirksam für den Menschen selbst und auch für die Kirche wird diese Taufe erst dann, wenn ihr die persönliche Ent scheidung eines mündigen Menschen nachfolgt; eine Entscheidung, die heute durchaus nicht mehr vorgeprägt ist durch Umwelt, Gesellschaft und kon ventionelle Verhaltensformen. Aus der Volkskirche wurde eine Kirche der Ge meinde, eine Kirche für einen kleineren Kreis von Menschen, die versuchen, bewußt nach ihrem Glauben zu leben. Aber auch diese Kirche muß insofern immer Volkskirche bleiben, als sie stets über sich hinausblickt, als ihr Denken und Handeln immer auch nach außen gerichtet sein muß, auf das ganze Volk hin, sonst läuft sie als Gemeindekirche Gefahr,zur Gemeindesekte zu werden. Diese Kirche hat auch immer Verbin dung mit der Weltkirche gehalten und muß auch heute Verbindung mit der Weltkirche und dem Nachfolger Petri halten. Auch in den Formen dieser Verbindung hat sich ein gewisser Wan del vollzogen. Die Verbindung, die man früher mehr mechanisch oder automa tisch gesehen bat, wird immer mehr zu einer organischen, lebendigen Verbin dung... Das Selbstverständnis der Kirche ist heute ein anderes als vor 100 Jahren, und wird in 100 Jahren wieder anders sein als heute. Mit der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft müssen sich auch die Methoden der Kirche wandeln, mit denen die Kirche ihrem Auftrag der Verkündigung entsprechen will. Ein viel zitiertes Wort Hofbauers lautet: „Das Evangelium muß immer neu gepredigt werden." Sie kann sich nicht heute jener Formen und Methoden bedienen, nicht aufjene Art reagieren, wie es den Menschen und den Zuständen vor zwei oder drei Generationen entsprach. Die Kirche muß daher stets auch nach neuen pastoralen Wegen und Formen suchen. Sie ist ja nicht in dem Sinne eine perfekte Gesellschaft, daß sie im menschlichen Sinne für immer vollendet wäre. Sie ist immer erst auf dem Wege zur Vollendung. Sie muß sich stets an passen, sie darf sich aber nie in der Anpassung verlieren. Sie muß immer um die Zeitbedingtheit ihrer äußeren und oft sehr menschlichen Formen wis sen. Sie darfsolche Formen nie verabso lutieren, sie darf in ihren Methoden nie zu exklusiv werden; sie muß immer auf das Vergangene sehen, das ja nicht tot und begraben ist, sondern immer noch hineinreicht in unsere Gegenwart, auch in den Menschen. Und sie muß dem Neuen, dem Zukünftigen immer einen Weg offen halten. In Zeiten des Wandels muß die Kirche nicht nur einen möglichen Pluralismus der Theologie, gesellschaftlicher und politischer Formen zur Kenntnis neh men, sie muß auch die legitime Vielfalt in der Liturgie zur Kenntnis nehmen und ihr auch Raum geben. Wir betrach ten den Gebrauch der Muttersprache in der Liturgie als einen Fortschritt, aber viele Menschen unter uns hängen an den alten liturgischen Formen,in denen sie aufgewachsen sind, die ihnen ein Leben lang vertraut waren.Auch für sie soll die Kirche ein Haus sein, in dem sie sich auskennen,in dem sie sich wohlfüh len. Auch hier sollten wir nicht exklusiv sein. Warum sollte nicht einmal am Sonntag auch eine Messe als lateinische Messe gefeiert werden? Sie ist ja nicht verboten. Warum sollten nicht in unse ren Domen an Festtagen die Meister werke unserer österreichischen Kir chenmusiker erklingen? Sie erklingen ja ebenso zum Lobpreis Gottes wie das Gemeinschaftslied oder das Gemein schaftsgebet. Wir sollten in den äußeren Formen das Neue nicht überbewerten und das Alte nicht allzu geringschätzen. ...Die Kirche als Kirche kann nicht allen alles sein. Das kann nur ein großer Heiliger wie Paulus als sein Ideal hin stellen und zu erreichen trachten. Es ist besser, wenn die Kirche das klar sagt, als wenn sie den Anschein erweckt,daß sie mit allem und jedem einverstanden ist. Wenn die einen das Interesse an einer Kirche verlieren, die nicht mehr ihrer angeblichen Hauptaufgabe,„Hüte rin der bürgerlichen Gesellschaftsord nung" zu sein, nachkommt, so kann man ein solches Mißverständnis ebenso wenig mit Taktik ausgleichen wie auf der anderen Seite die Auffassung vertre ten, die Kirche habe nur dann Sinn, wenn sie sich an die Spitze einer totalen politischen und gesellschaftlichen Revo lution stellt. Die Kirche ist das eine nicht, aber auch nicht das andere. Sie kann sich nicht zum Werkzeug der einen oder anderen Vorstellung machen las sen. Sie muß immer ja sagen zum Men schen, sie muß immer auch die Kraft haben,zu den Ideologien nein zu sagen. Sie kann die Spannungen nicht aus der Welt schaffen und sie muß im geistigen Raum mit der Spannung leben. Die Kirche ist immer beides; bewah rend und fortschreitend, konservativ und progressiv. Sie ist verpflichtet, die Offeiibarung zu bewahren. Sie weiß aber auch, daß das Verständnis der Offenba rung sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hat und weiter entwickeln wird. Sie weiß sich der Tradition ver bunden,aber ebenso weiß sie, daß sie in ihrer menschlichen Gestalt immer re formbedürftig ist. Die Kirche muß sich dagegen wehren, wenn jede Zeit eine neue Kirche erfin den will. Sie darfsich aber nicht sperren gegen ein neues zeitgemäßes Verständ nis von Kirche.So gesehen,sind konser vativ und progressiv einander ergän zende Strömungen in der Kirche; sie zu eliminieren oder sie einfach auf ein Mißverständnis zurückzufuhren, hieße, die Kirche der lebendigen Spannung und damit ihres Lebens zu berau ben... Die Kirche ist zutiefst eine Gemein schaft von Glaubenden. Dieser Glaube darf nicht in uns begraben werden. Er muß wirksam werden an unseren Mit menschen. Der Herr wird uns beim jüngsten Gericht nach den Auswirkun gen dieses Glaubens fragen, nicht zuletzt nach dem, was wir für unseren Bruder getan haben. Glaube ist aber nicht nur soziale Tat, und die Kirche nicht nur eine soziale Gemeinschaft allein. Vor Gericht werden wir jeder als einzelner stehen. Über das Christentum darf nicht der Christ vergessen werden, über der Gemeinschaft nicht der Mensch, der irrende, der zweifelnde, der strau chelnde und sündige,aber immer wieder hoffende und zur Liebe berufene Mensch. Um diesen Menschen hat der hl. Cle mens Maria Hofbauer in einer Zeit der geistigen Dürre, der institutionellen Erstarrung auch in der Kirche von Wien gerungen. Er war kein Gelehrter, kein großer Theologe, kein Programmatiker, kein Perfektionist, er war ein schlichter Arbeiter im Weinberg des Herrn. Er ist als Fremdarbeiter aus seiner mährischen Heimat nach Wien gekommen. Er ist zu einem Fremdarbeiter an den Seelen geworden. Er hat nicht zur Revolution gerufen, aber er hat eine wahre Revolu tion gemacht: Er hat aus einem dürren Acker eine neue Saat erweckt. Er besaß kein revolutionäres, soziales, wissen schaftliches, theologisches Programm. Sein Bestreben bestand in der Forde rung: „Das Evangelium muß neu gepre digt werden!" Darin liegt eigentlich al les, darin liegt das Bewahrende und das Fortschreitende, darin liegt die immer wieder neu gestellte und immer wieder neu zu bewältigende Aufgabe der Kir che, heute wie vor 150Jahren. Anmerkung: Aus: Franz König, Der Mensch ist für die Zukunft angelegt. Analysen, Re flexionen, Stellungnahmen, Wien-Frei burg-Basel 1975,S.205-211. 46
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