Wiener Diözesangeschichte 1960 - 1996

übrlegen, wegen dieser Frage ihre guten Beziehungen zu Staat und Regierung aufs Spiel zu setzen. Dahinter steht die Meinung, die Kirche werde sich schon arrangieren, mit der Kirche werde man auch hier aufgleich kommen.Das ist ein großes Mißverständnis. Weil ich hier über die Kirche und Gesellschaft zu Ihnen spreche, glaube ich, daß es meine Pflicht ist, auch darüber offen zu reden. Natürlich ist die Kirche an guten Bezie hungen zu Regierung, Staat und Gesell schaft interessiert. Natürlich anerkennt sie dankbar, daß sie in Österreich in Frieden und Freiheit arbeiten kann,daß der Staat ihr in vielen Fällen Hilfe und Unterstützung gewährt. Aber in grundsätzlichen Fragen kann sich die Kirche nicht arrangieren, auch nicht um des guten Einvernehmens, auch nicht um des lieben Geldes willen, das dahintersteckt. Auch dann nicht, wenn es ihr leid tun sollte, daß deswe gen ein gutes Einvernehmen getrübt werde. Die Kirche ist nicht in allen Fragen Herr ihrer eigenen Entscheidun gen, sie ist gebunden an ein Gesetz, das sie nicht ändern und das sie auch nicht mit Taktik überspielen kann. Als „Ge schäftspartner" in Grundsatzfragen, die die natürliche und übernatürliche Be stimmung des Menschen betreffen, ist die Kirche ungeeignet, weil sie sich immer auf eine höhere Instanz berufen muß, die letztlich doch nicht zu umge hen ist, die außerhalb ihrer Einfluß sphäre liegt und mit der man auch nicht paktieren kann:nämlich aufGott. Entschuldigen Sie, wenn ich auf diese Frage ausführlicher eingegangen bin, aber es wäre mir unehrlich erschienen, sie gerade vor diesem Forum zu umge hen. Denn sie ist nicht nur derzeit sehr aktuell, sondern sie berührt auch im Grundsätzlichen die Möglichkeiten und die Grenzen, die der Kirche im Verhält nis zur Gesellschaft gesetzt sind. Die Kirche kann im Grundsätzlichen keine Arrangements treffen, keine Geschäfte machen. Partnerin in vielen Fragen Aber die Kirche will Partnerin sein in vielen praktischen Fragen, sie sucht diese Partnerschaft auch mit einer so bewährten und verantwortungsbewuß ten Institution wie dem Gewerkschafts bund.Die gemeinsame Basis, wo wir uns treffen können, ist der Mensch. Wir kommen auf verschiedenen Wegen her, aber uns beiden geht es um den ganzen Menschen. Gewiß ist die Gewerkschafts bewegung in erster Linie dazu da, die sozialen und materiellen Rechte der Arbeiter zu schützen und auszubauen. Aber Sie als Gewerkschafter wissen,daß es mit Lohnerhöhungen allein nicht getan ist-oder wie es in der Bibel heißt: „Der Mensch lebt nicht vom Brot al lein." Sie haben sich daher auch um viele andere Fragen angenommen, um Fragen der Bildung, der Freizeitgestal tung,der Mitbestimmungim Betrieb. Die Frage der Erwachsenenbildung ist etwas, was uns beide interessiert. Die Fortbildung des Menschen hört mit dem Ende der Schulpflicht nicht auf. Nicht für das berufliche, nicht für das religiöse Leben. Jede Möglichkeit einer Vertie fung und Erweiterung, eines zweiten Bildungsganges, kann von der Kirche und der Gewerkschaftsbewegung nur begrüßt und unterstützt werden. Was die Freizeit betrifft, so sehen wir uns heute der Gefahr gegenüber,daß sie zu einem bevorzugten Gebiet moderner Ausbeutung zu werden droht. Hier geht es um den Schutz der Freiheit vor einer gewissenlosen Manipulation. Um die Freiheit imd nicht gegen die Freiheit geht es uns, wenn sich die Kirche wehrt gegen die raffinierte Ausbeutung durch eine gewissenlose Porno-Industrie, die Entwertung jeder echten Erotik durch einen kommerzialisierten Sex. Wenn ein erwachsener Mensch daran Freude fin det, so mag das seine Sache sein. Aber die Freiheit hat dort ihre Grenzen, wo sie den anderen belästigt, wo sie Kin dern und Jugendlichen, die nicht unter scheiden können, ein falsches, weil wertverkehrtes Menschenbild vermit telt. Ohne den Versuch, seinem Leben Sinn zu geben, ohne Verantwortung zu tragen, ohne ein Ziel vor Augen zu haben, kann der Mensch auf die Dauer nicht leben. Es war und bleibt das große Verdienst auch der österreichischen So zialdemokratie, ein verzweifeltes, ohne Hoffnung dahinvegetierendes Proletariat zu Selbstbewußtsein, Verantwortung, gesellschaftlicher und politischer Reife geführt zu haben, den Arbeitern wieder ein Ziel gezeigt zu haben,für das es sich zu leben und zu kämpfen lohnt. Soll diese große Erziehungsaufgabe heute zunichte gemacht werden durch eine neue, raffinierte und vielleicht noch gefährlichere Ausbeutung? Soll der Sinn des Lebens nur mehr darin liegen, mehr zu produzieren, um mehr konsumieren zu können? Es soll hier nicht einem Konsumverzicht das Wort geredet wer den, aber daß das nicht alles sein kann, das Mehr-Haben und Mehr-Genießen, das ist uns allen bewußt.Es ist uns allen bewußt, daß es noch etwas geben muß, was darüber liegt. Die Kirche will hier nicht aufSeelenfang ausgehen. Sie kann auch hier nur anbieten; Nachdenken muß der Mensch selbst. Wer Verantwortung trägt,kann mitbestimmen Die Gewerkschaftsbewegung hat die österreichische Arbeiterschaft zur Ver antwortung erzogen. Der ÖGB ist nicht nur eine sehr mächtige, sondern stets eine sehr verantwortungsvolle Institu tion gewesen. Wenn unsere Verhältnisse stabil erscheinen, unser sozialer Friede nicht gestört, wenn Konflikte durch Verhandlungen gelöst werden,wenn wir in den Augen vieler - auch der Papst sagte es kürzlich -ein glückliches Land sind,dann ist es nicht zuletzt der verant wortungsbewußten Politik des ÖGB zu verdanken. Wer sich in der Verantwor tung bewährt hat, der kann auch mit Recht verlangen, mitzubestimmen. Der ÖGB macht das im großen Rahmen der Sozialpartnerschaft. Die Arbeiter haben auch in den einzelnen Betrieben bewie sen, daß sie fähig sind, Verantwortung zu tragen. Es ist daher verständlich, wenn sie erwarten, daß man sie auch in den Fragen, die sie unmittelbar betref fen - organisatorisch und sachlich abge stuft mitbestimmen läßt. Aber wir leben nicht allein in der Welt. Österreich ist keine Insel der Glückseligen. Solange es Not. Hunger und Unterdrückung in der Welt gibt, können wir ims nicht in unser Schnekkenhaus zurückziehen. Gewerkschaft und Kirche können in vielen Dingen, wo es sich um geistige und materielle Ent wicklungshilfe handelt, zusammenarbei ten. Aber wir brauchen gar nicht in andere Kontinente zu gehen. Die Art, wie manchmal Gastarbeiter bei uns be handelt werden, spricht nicht für die vielgerühmte österreichische Gast freundschaft. Ich bitte Sie, auch hier die vielbewährte Solidarität der österreichi schen Arbeiter einzusetzen, um man chen argen Übelständen abzuhelfen. Helfen wir beide zusammen, auch hier ist der Mensch, um den es geht, der Arbeiter,der Christ, der Bruder. Der Mensch will seinem Leben einen Sinn geben, will Verantwortung tragen, will mitbestimmen, er will in Freiheit leben. Vor über zwanzig Jahren haben sich die östeneichischen Katholiken im sogenannten Mariazeller Manifest ein Programm gegeben, das seine Gültigkeit bis heute nicht verloren hat. Es trägt den Titel „Eine freie Kirche in einer freien Gesellschaft". Die Kirche kann nur frei sein, wenn die Gesellschaft frei ist. Die Demokratie ist der Mutterboden, aus dem wir leben. Hüten wir sie vor allen Versuchen,sie umzufunktionieren, sie auszuhöhlen, sie zu untergraben. Die Gewerkschaftsbewegung ist eine der Säulen dieses Staates. Sie wird auch ein Wächter der Demokratie sein. In dem erwähntem Mariazeller Manifest heißt es von der Kirche: „Die Brücken in die Vergangenheit sind abgebrochen, die Fundamente für die Rückkehr in die Zukunft werden heute gelegt. So geht die Kirche aus einem versinkenden Zeit alter einer Epoche neuer sozialer Ent wicklung entgegen." Das klingt etwas pathetisch. Wir würden es heute viel leicht etwas nüchterner sagen: Wir alle sind auf dem Weg in die Zukunft. Wie diese Zukunft aussieht, wird von uns abhängen. Das Ziel ist eine höhere Stufe des bewußten Lebens, eine neue Le bensqualität,ein Lebenssinn, Würde und Freiheit, ein menschlicheres Leben. Sollten wir da nicht zusammengehen, ein gutes Stück zumindest? Sie, die Gewerkschaft- wir, die Kirche. Es geht um den Menschen, dem wir beide die nen wollen. Anmerkung: Aus; Franz König, Der Mensch ist für die Zukunft angelegt. Analysen, Re flexionen, Stellungnahmen, Wien-Freiburg-Basel 1975,S. 75-ß3. 42

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