Wiener Diözesangeschichte 1960 - 1996

weiht, wird in den mittelalterlichen Quellen auch häufig „Vronaltar" ge nannt, weil sich das Sakramentshäus chen in unmittelbarer Nähe befand. Es ist urkundlich nicht überliefert, wo der 1334 von Pfarrer Heinrich von Luzem gestiftete Gottsleichnamsaltar stand, dessen Patrozinium Rudolf der Stifter sodann mit seinem Grabmal verband. Der Altar war bereits vollendet, als Pfarrer Heinrich 1336 starb und muß sich nicht mitten im Chor an der späte ren Grabstelle über der Herzogsgruft befunden haben. Vielmehr ist zu vermu ten,daß dieser ursprüngliche Gottsleich namsaltar unter dem Mittelteil des Lett ners errichtet wurde, der den Chor vom damals noch romanischen Querhaus trennte, er wäre demnach als „Volksal tar" des mittelalterlichen Domes zu be trachten, von dem nach den Anordnun gen Pfarrer Heinrichs zu Fronleichnam die Prozession mit vierzig bis fünfzig Weltpriestern aus Wien ihren Ausgang nehmen sollte und die „Missa publica" zu feiern war."' Die Weihe der Lettneraltäre fand gleichzeitig mit der Chorweihe am 23. April 1340 statt. Verschiedene Passions reliefs aus St. Stephan, die sich im Historischen Museum der Stadt Wien und im Erzbischöflichen Dom- und Diözesanmuseum erhalten haben,sind mit dem Gottsleichnamsaltar Heinrichs von Luzern in Zusammenhang gebracht worden, könnten aber auch zur einsti gen Lettnerbrüstung gehört haben." Nach der Übertragung des Gottsleichnamspatroziniums auf den mit dem Grabmal Rudolfs des Stifters verbunde nen Altar wird der zentrale Lettneraltar in den Quellen Kreuzaltar genannt. Der Lettner kann als das kultische Zentrum der Laienschaft angesehen werden. Auf seiner Bühne, die sich auf eine geschlossene Rückwand stützte, an der Vorderseite aber wahrscheinlich auf einer offenen Arkadenreihe ruhte, spiel ten sich nicht nur wesentliche Teile der Osterliturgie ab, sondern auch die älte sten geistlichen Schauspiele. Die Altäre standen teils in den kapellenartigen Räumen unter der Lettnerbühne, teils auf dieser selbst. Mehrere Durchgänge führten in die Chorschiffe, von denen die „Zwölfbotentür" 1348 urkundlich ge nannt ist."' Im südlichen Chorschiff, dem Apostel chor, stand dort, wo sich heute das Marmorgrab Kaiser Friedrichs III. befin det, der schon 1336 erwähnte „Zwölfbo tenaltar". An entsprechender Stelle im nördlichen Chorschiff ist noch heute der Frauenaltar zu finden, zu dem einst die legendenumwobene „Dienstbotenmut tergottes" gehört haben mag. Der heute dort aufgestellte Flügelaltar ist erst im 19. Jahrhundert aus Wiener Neustadt nach St. Stephan gekommen. Die le bensgroße Marienstatue, die nun am Fuß des Kanzelpfeilers im Langhaus ihren Platz hat, wurde in enger Anleh nung an einen französischen Typus um 1320 - 1330 geschaffen. Der Figuren schwung, die schlanken Körperformen und die Innerlichkeit ihres Wesens las sen sie anmutiger erscheinen als die blockhafteren Statuen an den Chorpfei lern.'" Sinn und Zusammenhang der Ausstat tung des Chores mit Skulpturen sind durch spätere Umstellungen verunklärt worden. Auch hat das reiche, sich an den Chorpfeilern entfaltende Statuen programm im Laufe der Zeiten, wohl vor allem während der Barockisierung des Chores, als die Kaiseroratorien er richtet wurden,Einbußen erlitten. Es ist aber auch nicht sicher, daß es je Voll ständigkeit erlangte. Wie später die Sta tuen an den Langhauspfeilern waren wohl auch die des Chores zu einem guten Teil bürgerliche Stiftungen. Wäh rend aber im Langhaus nur schwer ein Ordnungsgebendes Prinzip herauszule sen ist, und zahlreiche Figurenwiederho lungen vorkommen, war das Statuen programm des Chores offenbar von be rufener Seite festgelegt worden. Die Statuen des Frauenchores bezie hen sich auf Maria. Der Zyklus beginnt mit der Verkündigung, die am Chorein gang aufgestellt war, um anzudeuten, daß Maria, die den Erlöser empfangen hat, die Pforte des Himmels ist. Von der Gruppe hat sich nur noch der Engel Gabriel erhalten, der von seinem ur sprünglichen Aufstellungsort in die Ap sis versetzt wurde.'" Die thronende Mut tergottes mit dem Jesuskind, das offen bar den herannahenden Königen die Arme entgegenstreckt, muß zu der Kon sole, die durch Löwen den Thron Salomonis andeutet,gehören. Heute befindet sich dort die hl. Mutter Anna, während die Muttergottes, die in Anspielung auf den Thron Salomonis als Sitz der göttli chen Weisheit verehrt werden soll, an den Freipfeiler gegenüber versetzt ist, wo sie auch nicht mehr in Beziehung zu dem einzigen erhaltenen König am Pfei ler neben der Annenstatue steht. Die ebenfalls zum Frauenchor gehörige Schutzmantelmadonna wurde erst in jüngster Zeit an einen Freipfeiler des mittleren Chorschiffes übertragen. Die Entwicklung von Statuenzyklen im Kir chenraum hat sich in Frankreich und in Deutschland bereits im 13. Jahrhundert angebahnt. An den Pfeilern des Chores treten nun einige Themen auf, die auch für sich genommen als Andachtsbild Verbreitung hatten. Die thronende Mut tergottes ist der älteren, stark franzö sisch beeinflußten Klosterneuburger Madonna als Vorbild verpflichtet.'" Die Annenstatue hängt eng mit dem in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Österreich aufblühenden Annenkult zu sammen, der damals die Wallfahrtskir che auf dem Annaberg in Niederöster reich, die Annenkapelle an der Stelle der heutigen Annakirche in Wien und die Annenstatue an der Stadtpfarrkirche in Krems entstehen ließ."' Die Schutz mantelmadonna fand durch die Hand schriften des „Speculum humanae salvationis", auch „Heilspiegel" genannt, weite Verbreitung,in St. Stephan jedoch die erste statuarische Ausprägung.-" Der Asyl gewährende Mantelschutz für ge richtlich Verfolgte wurde durch Frauen und Jungfrauen ausgeübt und spielte in der mittelalterlichen Rechtspflege eine wichtige Rolle. Die zum ursprünglichen Zyklus zäh lenden Statuen in der Apsis des Mittel chores stehen noch an Ort und Stelle. Sie repräsentieren die in der Litanei angerufenen Vertreter der Heiligenge meinschaft,-' welche noch zahlreicher die Langhauspfeiler bevölkert, da ja Rudolf der Stifter für seine Kollegiatskirche das Patrozinium Allerheiligen erwählt hat. Im Chor treten Stephanus und Laurentius für die heiligen Märtyrer auf, Katharina für die heiligen Jung frauen, Christopherus für die Bekenner und Johannes der Täufer für die alttestamentlichen Heiligen. Die Statuen des Frauen- und des Hauptchores gehören einer älteren, wohl schon teilweise im dritten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts entstandenen Gruppe an. Es wird übri gens angenommen, daß der Chorbau erst mit der Beendigung des Streites um die Einsetzung des Pfarrers von St. Stephan einen Aufschwung nahm, als sich der Passauer Bischof und der habs burgische Landesfürst 1323 auf den schon genannten einstigen Protonotar der herzoglichen Kanzlei, Heinrich von Luzern, einigen konnten."'^ Die Apostel statuen im Zwölfbotenchor sind dagegen erst um 1340 anzusetzen. Heute gibt es nur noch sechs mittelalterliche Apostel figuren, von denen die meisten durch Überarbeitung im 19. Jahrhundert ver ändert wurden. Am besten erhalten ist der Apostel Thomas mit Lanze und Buch,der in dem aus der Pfarrkiche St. Joseph in Margareten stammenden, heute im Mittelchor von St. Stephan aufgestellten Salvator ein Gegenstück hat; dieser gehört vielleicht ebenfalls zu dem Apostelzyklus. Die stilistische Quelle der älteren, noch stark dem 13. Jahrhundert verbun denen Chorstatuen ist hauptsächlich am Oberrhein zu suchen, wohin die Habs burger mannigfaltige Beziehungen hat ten.-' Für den im Detail verfeinerten Apostelzyklus hingegen, wie für die Westportale der Minoritenkirche in Wien, scheinen französische Vorbilder wirksam geworden zu sein.-' Auch zwi schen Regensburg und Wien muß eine gegenseitige Beeinflussung der bild hauerischen Arbeiten stattgefunden ha ben. Einerseits zeigt das Bogenfeld des ehemals am Ludwigschor der Minoriten kirche angebrachten Portals deutlich die Hand eines Regensburger Meisters, an dererseits dürften die strengeren, monu mentalen Chorstatuen des Stephansdo mes auf Regensburg zurückgewirkt ha ben.-"' Sogar an italienischen Einfluß ist bei einzelnen Statuen, wie bei den Heili gen Stephanus und Laurentius, zu den ken. Das Statuenprogramm des Chores wird durch die Darstellungen von Pro pheten, Königen und Ahnen Christi an den nur noch zum Teil original erhalte nen Konsolen ergänzt. In ihrer Grund form sind sie wie die des Regensburger Domes,die weitgehend im vorigen Jahr hundert erneuert wurden, aus Felsen gebildet. Trotz stilistischer Unterschiede im einzelnen stehen die Konsolen insge samt der älteren Statuengruppe des Chores näher als den jüngeren Apostel figuren."-" Das gleiche läßt sich von den Schlußsteinen sagen, deren bildneri21

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