Wiener Diözesangeschichte 1960 - 1996

Gesamtplan zugrunde lag, der freilich spätere Abänderungen und Berei cherungen in der Durchbildung erfahren hat.' Als Auftraggeber für den Chorbau treten gleichzeitig der habsburgische Landesfurst und das Wiener Bürgertum hervor, das schon in seiner Blütezeit unter König Ottokar die Verwaltung des Kirchenbaues übernommen haben muß. Dieses Zusammenwirken zeigt sich be reits 1304 bei der Beschaffung des Bau grundes. auf dem entsprechend der Würde des Landesherrn, König Al brechts I.,eine Königs- und Bischofskir che entstehen sollte. Die nicht durch Quellen belegte Überlieferung, dieser habe beim Papst die Errichtung eines Bistums erbeten, ist also durchaus glaubhaft, zumal schon für die letzten Babenberger solche Bestrebungen be legt sind.- Die dreischiffige. gestaffelte Chorhalle sollte gegenüber der romanischen An lage mit Querschiff, Chorquadrat, Hauptapsis und Nebenapsiden einen we sentlichen Platzgewinn für den Bischofs thron und das Chorgestühl der Domher ren bringen. Der Plan folgt nicht dem Vorbild der klassischen französischen Königskathedrale, bei der sich um den Hochchor ein niedrigerer Umgang mit Kapellenkranz legt. Albrecht I. hat an scheinend bewußt von diesem Leitbild Abstand genommen, obwohl durch die Verehelichung seines Sohnes Rudolf mit Blanche von Valois sogar verwandt schaftliche Beziehungen zum französi schen Königshaus hergestellt waren. Ob im Planungsstadium der gotischen Stephanskirche Grund- und Aufriß der in der Gesamtanlage ähnlichen Kathe drale St. Pierre in Poitiers, der ersten gotischen Hallenkirche, maßgeblich wa ren, muß offenbleiben."' Der um 1170 unter der Regierung Heinrichs II. Plan tagenet von England begonnene Hallen bau ist im Osten nach englischem Vor bild mit einer geraden Wand, in die Altarnischen eingelassen sind, geschlos sen. 1204 mit dem Poitou an die französi sche Krone gelangt, wurde die Kathe drale erst um 1290 unter dem Einfluß der Ile de France vollendet.' In der Gesamtzahl der Joche, einer Folge von vier Jochen im Langhaus, einer quer hausartigen Anlage mit seitlicher Erwei terung durch Kapellen, über denen sich bei St. Stephan die gotischen Türme erheben, und anschließend drei Jochen im Chor,abgesehen von den vieleckigen Chorkapellen der Stephanskirche, beste hen gewiß unübersehbare Gemeinsam keiten. Auch die gleiche Breite der Schiffe, sogar die Staffelung des Lang hauses mit höherem Mittelschiff ist in Poitiers sowie in St. Stephan in Wien zu beobachten, doch zeigen die Bauten eine völlig verschiedene formale Durchfuh rung. Eher möchte man annehmen,daß die Bauleute des 1295 geweihten Hallen chores von Stift Heiligenkreuz in Nie derösterreich bereits von der Kathedrale in Poitiers Kunde hatten, deren Bau von Ost nach West fortschritt. Da die Chor halle von Heiligenkreuz bei allen Abwei chungen im einzelnen dem Chor der Kathedrale St. Pierre näher steht, als dies für die Choranlage von St. Stephan zutrifft, könnte man allenfalls an einen mittelbaren Einfluß über Heiiigenkreuz denken. Jedenfalls liegt für den Chorbau der Stephanskirche das Vorbild von Heili genkreuz näher und ist auch die Förde rung der dortigen Stiftsbauten, insbe sondere der Bernhardikapelle, durch Albrecht I. überliefert. Die Zisterzienser und die Bettelorden hatten schon im 13. Jahrhundert in Österreich für den Hal lenbau bahnbrechend gewirkt.-"' Die nahe Verbindung der frühen Habsbur ger zu diesen Orden mag auch erklären, weshalb König Albrecht die gegenüber dem Strebewerk basilikaler Bauten technisch weniger aufwendige Halienform wählte. Doch ist ebenso der Ein fluß der Wiener Bürger auf diese Ent scheidung nicht zu unterschätzen. In der Kunstgeschichte wurde die Entstehung der „bürgerlichen Halle" als große Son derleistung der deutschen Gotik hervor gehoben, wenngleich die Hallenkirche gewiß nicht schlechthin als bürgerlich abgestempelt werden darf.*' Gewisse Züge des über quadratischem Grundriß errichteten Chores in Heiligenkreuz, wie der Stützenwechsel und die Doppelfen ster in den Seitenschifljochen, wurden erst wieder am Langhausbau von St. Stephan ab 1359 aufgegriffen. Auch ist an den Gewölbeanfängen erkennbar, daß hier wie im Heiligenkreuzer Chor fünfteilige Gewölbe geplant waren, die später zugunsten des Netzrippengewöl bes von Hans Puchspaum aufgegeben wurden. Der Chor von St. Stephan wird hingegen nur durch einfache drei- und vierteilige Fenster belichtet, die in die glatten Mauerflächen zwischen den Strebepfeilern eingesetzt sind. Die Strenge der äußeren Erscheinung erin nert an die Bettelordensarchitektur, wenn auch die mehrfach gestuften Stre bepfeiler mit Krabbenbesatz, die Dach galerie und der bauplastische Schmuck davon abweichen und auf die Hochgotik zurückzuführen sind. Im Inneren entfaltet sich ein weit größerer architektonischer und baupla stischer Reichtum. Die Mauerflächen sind durch die vielgliedrige Profilierung der Fenstergewände zurückgedrängt, die Wand- und Freipfeiler durch ein groß angelegtes Statuenprogramm be lebt, das über die Aufstellung der Stif terfiguren in der ehemaligen, von König Rudolf I. gegründeten Dominikanerin nenkirche in Tulln weit hinausgeht."'' Vom Chor in Heiligenkreuz wurde bei der Errichtung der Umfassungsmauern des Chores von St. Stephan die kantig zarte Birnstabprofilierung übernommen. Bei der späteren Errichtung der Mittel schiffspfeiler nach Niederlegung des möglichst lange verwendeten romani schen Chores tritt ein Wechsel zu Rund stäben und Kehlen ein, wie dies der Entwicklung des Bündelpfeilers im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts entspricht. Der Chor von St. Stephan und dar über hinaus die gesamte gotische Ste phanskirche ist vom Grundriß her mit drei gleich breiten Schiffen geplant, doch leitet sich der Dreiapsidenschluß von basilikalen Kirchenbauten her, de ren höheres Mittelschiff gegenüber den niedrigeren, schmäleren Seitenschiffen weiter nach Osten vorgeschoben ist. Vor allem scheint der Regensburger Dom chor vorbildlich gewesen zu sein, der seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhun derts im Bau war und sich auf eine heimische Bautradition dreischiffiger ge staffelter Chöre wie an der Dominika nerkirche in Regensburg stützen konnte." Auch der in den letzten Jahr zehnten des 13. Jahrhunderts entstan dene Chor der Liebfrauenkirche in Wie ner Neustadt zeigt durch den Anbau gestaffelter Seitenapsiden an das mitt lere Chorschilf die Tendenz zur Dreischiffigkeit. So kann der Chor von St. Stephan als Zusammenfassung dreier durch betonte Scheidbogen getrennter Kapellen gesehen werden,'' doch ist bei dieser ersten gotischen Halle mit gestaf feltem dreiapsidalem Chorschluß das Streben nach einem einheitlichen Raumgefüge nicht zu übersehen. Das dem Fünffachtelschiuß des Mittelschiffes vorgelagerte Joch mit sechsteiligem Ge wölbe verbindet durch Arkadenöffnungen zu den ebenfalls in fünf Seiten des Achtecks gebrochenen Seitenchören. Dieses Verbindungsjoch ist etwas tiefer als die übrigen kreuzrippengewölbten Chorjoche und für die dem Chorbau innewohnende Zentralbauidee von ent scheidender Bedeutung. Die Höhe der Chorhalle (22 m) ist gegenüber deren lichter Weite (3 x 37 Fuß = 35 m)und deren Länge nicht überbetont.'" Erst durch die Höhe des nach dem Dombrand von 1945 getreu erneuerten Daches, das allen drei Schiffen gemeinsam ist, wird der Höhenzug stärker, so daß er die Breite der Chorhalle übersteigt.'' Rudolf der Stifter hat sich den zentralen Bauge danken des Chores zunutze gemacht und in seiner Mitte über der von ihm angelegten Herzogsgruft das heute im nördlichen Chorschiff befindliche Hoch grab mit dem Gottsleichnamsaltar er richtet."^ Dem Herzog gelang es auch, die Stephanskirche 1365 in ein vom Passauer Bischof unabhängiges Kollegiatsstift mit dem Titel Allerheiligen umzuwandeln. Die Bistumspläne konn ten hingegen damals noch nicht ver wirklicht werden. Der Gedanke an die Communio Sanctorum war bereits im Statuenprogramm des Chores vorgege ben, das auf eine Vielzahl liturgischer Funktionen abgestimmt war. Denn der Chor sollte nicht nur der Geistlichkeit und später den Domherren Raum geben und für Gottesdienste des Herrscherhau ses dienen,sondern auch Meßstiftungen vornehmer Bürger aufnehmen. Jedes Chorschiff hat seine besondere Bestim mung, die sich in der Widmung der Altäre, im Skulpturenschmuck und in der Ausstattung mit Glasmalereien einst noch deutlicher ausdrückte als heute. Das Mittelschiff ist vor allem auf die Verehrung Christi und des Haupt patrons der Kirche, des hl. Stephanus, ausgerichtet, veranschaulicht aber auch den Gedanken an die Gemeinschaft der Heiligen durch die dort angebrachten Pfeüerstatuen. Der Hauptaltar in der Apsis, von alters her St. Stephan ge20

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