Wiener Diözesangeschichte 1960 - 1996

charakteristischer Ausdruck die „neue Sachlichkeit", die Mechanisierung des Menschen gelten mag, fürchtet sich da vor,im praktischen Leben irgend etwas anderes anzuerkennen, als Erwerb- und Luststreben im weitesten Sinn und des sen Befriedigung. Das Nachleben nach Idealen höherer Art hält er für kindische Romantik. Das ist für den einzelnen nicht als Schuld aufzufassen, vielmehr als tragisches Schicksal. Ihn also etwa schroff von der Schuldseite her packen und ihm am Maßstab übergeordneter sittlicher Forderungen seine Verworfen heit aufzeigen zu wollen, wäre verkehrt. Der Inkulpat würde sich verständnislos wegwenden. Nur herzliche Anteilnahme und tiefes Verstehen, bei dem sich selbst das Verzeihenwollen gütig hinter Hel fenwollen verbirgt, kann ihn seelisch erfassen, aufrichten und zur Erkenntnis des Rechten fuhren.Es gilt also,sich auf den Boden, in das seelische Milieu des Pfarrkindes zu stellen und von dort aus mit dem Menschen den Weg zu des Menschen Veredlung zu gehen. Darf ich noch hinzufügen: feinstes Einfühlen besonders im Beichtstuhl. Ich kenne recht brave und redliche Leute, die sich aber deshalb offen als Atheisten erklären, weil sie im Beichtstuhl unge rechte Beurteilung gefunden haben. Der Großstädter hat von vorneherein nicht die Demut, aus ungerechtem Tadel Be lehrung zu ziehen oder auch nur dem Beichtiger kritiklos gegenüber zu ste hen. Umso unkritischer verwechselt er dafür Person und Sache. Auch vor manchen Überspannungen sollte man sich hüten.So z. B.in Fragen der Mode, der Belustigungen und des Sportes. Ich meine, das Wichtigste hier ist die intransigente Herausstellung des Grundsätzlichen, die Wahrung der Sitt lichkeit und der natürlichen Ordnung, und vor allem positive Arbeit zur Förde rung des gesunden Empfindens. Detail bestimmungen, namentlich im negati ven Sinne, erweisen sich mitunter nicht als glücklich. Ferner: mit dem Volke leben, mitten unter ihm sein, wird dem Seelsorger Anhänglichkeit werben, ganz besonders dann, wenn er bei aller Umgänglichkeit und ohne „fad" zu sein, doch dem Volk das Vorbild einer echten, klaren, güti gen Priesternatur gibt. Eine weitgehende und loyale Förde rung der katholischen Volksorganisatio nen ist ebenfalls Gebot der zeitgemässen Seelsorge. Es fehlt da noch allerhand. Auch das Aufgeben mancher Eigenbrö telei mit lokalen, außerhalb der großen Diözesanorganisationen stehenden, daher meist stagnierenden Pfarrvereinen ge hört in dieses Kapitel. Was noch viel prägnanter in den Vor dergrund treten muß,ist das mutige und tatkräftige Eintreten des gesamten Kle rus für die Erlösung des Proletariers aus der Recht- und Besitzlosigkeit einer abwegigen Wirtschaftsentwicklung. Die Sendung der katholischen Kirche in der Großstadt von heute hat keinen gewalti geren Botenruf als die Tatsache, daß der Heiland nicht zu den Reichen und Sat ten kam, sondern zu den Armen und Enterbten. Und nicht Erziehung zur Demut des Almosenempfängers, son dern die Aufrichtung von Menchenrecht und Menschenwürde wird die Herzen aufschließen. Gehörte dazu nicht auch das Aulhören mitjenem tiefen Respekt, den manchmal Vertreter des hochwürdi gen Klerus gegenüber dem Reichtum oder nicht durch eigenes Verdienst pri vilegierten Personen haben? Der Hei land hat diesen Respekt auch nicht gehabt. Alle diese Fragen wären natür lich schon in der Seminarerziehung zu beachten. Das Vorbild Kar! Sonnen scheins sollte recht lebendig namentlich unter denen werden, die später einmal in der Großstadt zu wirken haben...' F.Heinrich Wagner COp:Arbeiterseel sorge im Rahmen der ordentlichen Seelsorge. Seit Jahr und Tag ist es in manchen Kreisen unheimlich ruhig geworden um die seelische Gewinnung der Arbeiter schaft. Weil in der Öffentlichkeit die Angriffe ausbleiben, die gegen Kirche und Priester früher erhoben wurden, drum lassen sich manche in bester Ab sicht täuschen. Vergessen wir nicht, daß noch weite Kreise auch den formellen Weg zur Kirche zurück noch nicht ge funden haben. Es ist eine Tatsache, daß die illegale Tätigkeit seit den Febertagen noch nie so groß war wie in den letzten zwei Monaten. Es sind manche Vor kommnisse gewesen, die leider dort und da Grund zur Verstimmung und Ableh nung gegeben haben.Im Denken dieser Menschen sind gerade bei uns Kirche und Staat eine Einheit und im selben Ausmaß wie sie dem Staate entgegenar beiten, lehnen sie auch die Kirche ab. Die Fehlgriffe und Härten im öffentli chen und im Arbeitsleben gehen aufdas Schuldkonto der Kirche. Es scheint nun,daß gerade vom Politi schen und Wirtschaftlichen her endlich die Befriedung der Arbeiterschaft kom men kann. Die Erklärungen und ersten Maßnahmen des neuen Sozialminister fanden guten Widerhall. Wie hier die Gegnerschaft gegen den Staat abnimmt, besteht auch für den Priester die Mög lichkeit, an die Arbeiter heranzukom men und ernst genommen zu werden. Im letzten Weihnachtshirtenbrief ha ben die Bischöfe Österreichs einen Aus spruch Leos XIII. sich zu eigen gemacht, der erklärte, es sei sein großer Wunsch, daß in jeder Pfarre ein katholischer Arbeiterverein bestehe. - Heute ist die große Zeit der Arbeitervereine gekom men,wenn wir nicht schon eine Arbeiter bewegung hätten, müßte sie sofort ge schaffen werden. Wir haben eine christliche Arbeiterbe wegung, in der unendlich viel guter Wille, Opfersinn und Arbeitsfreudigkeit herrscht. Waren die früheren Formen der Organisationen fast lediglich partei politisch eingestellt, so wollen sie heute in der K.A. mitschaffen und ihr Bestes geben. In Wien sind Vertrauensleute für die einzelnen Pfarren nominiert worden, damit durch sie Mitarbeit in der Pfarre angebahnt werde. Zu wünschen ist, daß der Pfarrklerus davon Kenntnis nimmt und ein gedeihliches Zusammenwirken ermöglicht. Wenn auch von allem An fang an nicht alles ganz ideal sein kann, so soll doch geholfen werden. Im Rahmen der großen Katholischen Arbeiterbewegung gibt es auch noch christliche Berufsverbände wie die der Post, Eisenbahn usw., die in Zukunft nicht nur zentral geführt werden, son dern auch den einzelnen Bezirken und Pfarren zugeführt werden,damit sie hier betreut werden können. Es ist nur zu bekannt, daß bei diesen Menschen seel sorglich noch viel aufzuholen wäre. Viele Tausende junger Menschen ste hen im Arbeitsdienst, es wird ihnen in dieser Einrichtung viel Wertvolles gebo ten, das Beste könnte und muß ihnen der Priester geben, da aber in diesen Gruppen gerade vielfach Jugend steht, die eine eigene Erziehung erhalten, dann die Not der Arbeitslosigkeit ertra gen hat, so muß mit viel Takt und Einfühlung vorgegangen werden, wenn der Priester als Seelsorger eingreifen will. Es sind dabei sehr viele Erfolge erreicht worden. Wie andere Mitbrüder dieser Arbeit angegangen, von ihrer Art soll Interessenten gerne mitgeteilt wer den. Das wären zur Stunde einige drän gende Wünsche und Wege, die in jeder Pfarre besonders erwogen sein sollen. Wünsche, Anfragen, die irgendwie mit der christlichen Arbeiterbewegung zu sammenhängen sind zu richten an P. Wagner Heinrich C.op. Wien XV."=^ Anmerkungen: 'Dr. Alma Motzko war als Mitglied der christlichsozialen Partei vor allem in der Sozial- und Fürsorgearbeit tätig. So gewann sie tiefe Einblicke in die sozia len Fragen und Probleme ihrer Zeit. Die abgedruckten Gedanken stammen aus einem Brief,den Dr. Motzko im Septem ber 1930 an die Redaktion des „Seelsor gers" in Beantwortung der Frage nach den wichtigsten Aufgaben der Seelsorge in der Gegenwart richtete; Diözesanarchiv Wien, Nachlaß Prälat Rudolf, Karton 141/1: Seelsorger. P. Heinrich Wagner von der Kalasantinerkongregation war der Leiter des Arbeitskreises der Arbeiterseelsorger im Wiener Seelsorgeinstitut; Diözesanarchiv Wien, Nachlaß Prälat Rudolf, Karton 46/1. Das Rundschreiben stammt aus dem Jahr 1935. Wiener Diözesanblatt: Inhaber: Erzdiözese Wien (Alleininhaber). Herausgeber: Erzb. Ordinariat. Redaktion: Diözesanarchiv Wien (Dr. Johann Weißensteiner). Alle: 1010 Wien, Wollzeile 2. - Hersteller: Herold Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H. 1080 Wien,Strozzigasse 8.-Das„Wiener Diözesanblatt" ist das offizielle Amtsblatt der Erzdiözese Wien. ' 40

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