Wiener Diözesangeschichte 1960 - 1996

Die Bejahung des Kapitals, auch des zentralistisch redigierten, drückt Rauscher während einer Rede im Land tag aus.'-'" Er wittert die Gefahr, die durch eine solche Entwicklung entste hen kann,dennoch lehnt er sie nicht ab. Er sagt: „Die gewaltigste und jenseits gewisser Grenzen die gefahrlichste Centralisierung ist die des Kapitals und mit jeder Staatsanleihe, mit jeder Actiengesellschaft und Eisenbahn macht sie einen Schritt vorwärts."'" Die positive Haltung gegenüber der Staatsanleihe beweist Rauscher auch dadurch, daß er in einem eigenen Hirtenbrief, ,,Die Na tionalanleihe" vom 16. Juli 1854, die Bevölkerung aufruft, durch ihren Er werb den Staat zu stützen. Auch im Hirtenschreiben vom 28. Jänner 1872 bekennt sich Rauscher zum Kapital: „Nebenbei drängt sich die Frage auf: Ist es also möglich, daß alle Menschen im Überfluß leben? Nein. Wenn es möglich wäre, das Kapital abzuschaffen, so gäbe es niemanden,der das Überflüssige kau fen könnte und alle damit beschäftigten Arbeiter würden brotlos werden."" Die ses Zitat Rauschers läßt wiederum sein naiv wirtschaftliches Verständnis erken nen.In einer Zeit, in der die wirtschafts politischen Untersuchungen und wert vollen Erkenntnisse eines Adam Smith längst bekannt sind, scheint dieses wirt schaftliche Verständnis bei einem Mann, der sicherlich gebildet ist und eine her vorragende Persönlichkeit seiner Zeit darstellt, durchaus verwunderlich. Das Problem der Armut will Rauscher in den Griff bekommen, indem er hin weist,daß auch das „Jesuskind" in einer Krippe geboren wurde.'" Das gesell schaftliche Problem der Armut und des Reichtums, die materiellen Gegensätze, sieht Rauscher, wie erwähnt, nicht so sehr aus der industriellen Entwicklung resultierend, vielmehr begnügt er sich damit, darauf hinzuweisen,daß es schon immer arme Leute gab, die trotzdem gute Christen waren. Außerdem meint Rauscher über die Armut: „Durch die planmäßige Theilung der Arbeit und der Erfindungen, welche die tote Maschine an die Stelle der Menschenkraft setzt, ... sind die Behelfe der Bequemlichkeit,des Vergnügens, der Üppigkeit, verfeinert und vielfältig worden. Zahllose Kleinig keiten sind nicht nur dem Wohlhaben den unentbehrlich geworden, sondern verbreiten ihre Lockungen immer wei ter und weiter hinab. Wer dasjenige nicht hat, was er als Bedürfnis fühlt, der ist arm.'"" Nur langsam erkennt man das Entste hen eines vierten Standes- das Proleta riat. Eine neue Erscheinung,eine gesell schaftliche Veränderung, mit der die staatliche Führung noch keine Erfah rung hat, Massen, die noch nicht richtig in das feudalistische System der Mon archie integriert sind. Wie ernst und schwierig die Lage der Fabriksarbeiter und deren Familien ist, kennt Rauscher in Ansätzen. Effektive Unterstützung und Hilfsmaßnahmen oder eine Neuorientierung der Politik wären Schritte, zu denen es nicht kommt. Eindringlich und mit drasti schen Worten hebt er im Landtag die trostlose Lage der Fabriksarbeiter her vor. In seiner Rede vom 31. Jänner 1866 sagt er: „Der Fabriksarbeiter wird ge lehrt, sich als freier Staatsbürger zu fühlen und ohne Zweifel ist er es; wo aber die Fabriksthätigkeit eine hohe Stufe erreicht hat, dort hat sein Recht keine für ihn fühlbare Geltung als daß es ihm freisteht,zu verhungern,wenn er auf die von den Arbeitgebern gestellten Bedingungen nicht eingehen will.'"^" Sicherlich ist diese Formulierung keine rhetorische Verschärfung, vielmehr zeigt sich kurz und prägnant die Lage der Arbeiterschaft in jenen Tagen.Es sei darauf hingewiesen, daß diese Worte nicht in einem Hirtenbrief verlesen wer den. Bewußt ist sicherlich in keinem Hirtenbrief eine solch drastische Ab handlung zu finden. Rauscher vermeidet mit Absicht jegliche gesellschaftliche, insbesondere soziale Konfrontation mit den einfachen Gläubigen. Ursache dafür dürfte sein, daß er die materielle Situa tion dieser Leute hinter den überirdi schen Wert des Glaubens stellt. Sicher lich nicht allein um weltliche Probleme zu negieren, vielmehr um eine zusätzli che Konfrontation und Vertiefung des Konflikteszu vermindern. Es gibt keinen Hirtenbrief, der sich ausschließlich oder zum Großteil mit der sozialen Frage und dem Arbeiterpro blem auseinandersetzt. Wird das Thema der Industrialisierung auch oft ange schnitten und deren Folgeprobleme skizziert, so fehlt doch ein Programm, eine Linie, mit der sich Rauscher diesen ungelösten Aufgaben widmet. Eine weitere Funktion, die die Hirten briefe sicherlich erfüllen, ist jene, dem Volk Trost zu spenden. Auch der Hin weis auf das Jesuskind, welches in einer Krippe das Licht der Welt erblickte, scheint ein Indiz dafür zu sein. Die Gegensätze arm-reich sieht er nicht im System verborgen, sondern vielmehr in der Natur des Menschen: „Wenn nun vollends Gott zuläßt, daß mit der Freiheit und Gleichheit ein Versuch gemacht wird, so verlieren viele tausend fleißige Arbeiter ihren guten, gesicherten Erwerb; die Lieder lichen treiben sich eine Weile auf den Barrikaden herum, erhaschen manch mal einen guten Trunk, büßen aber dafür nicht selten das Leben oder die geraden Glieder ein, und nachdem mehr oder weniger Unheil geschehen ist, bleibt in der Hauptsache alles beim alten; es gibt wie vorher Arme und Reiche."-' Rauscher geht nicht darauf ein, wie dieser Zustand verändert wer den könnte. Seiner Meinung nach müs sen auch die Arbeiter lediglich ihre Pflicht erfüllen. Das System der Indu strialisierung und die daraus resultieren den Probleme werden ihm nur zum Teil bewußt. Hätte Rauscher tatsächlich ein wirt schaftliches Verständnis, müßte er die Probleme erkennen und sich mit Taten und Programmen für eine Besserung der wirtschaftlichen Lage des biederen Vol kes einsetzen. Doch es kann nur wieder holt werden, Rauscher sieht zwar die äußeren Ergebnisse der mechanisierten Fabriken, doch verkennt er die Umwäl zungen,welche die „industrielle Revolu tion" mit sich bringt. Um es drastisch auszudrücken: Durch deren Fehlein schätzung hat die Kirche den Anschluß an die in Bewegung geratene Gesell schaft verpaßt. Der Zustand der Monarchie verändert sich. Im Dezember 1867 muß der Kaiser trotz persönlicher Ablehnung die Ver fassung anerkennen. Die Kirche ver sucht, ihre alte Position zu verteidigen und zu erhalten. Die liberalen und sozia listischen Strömungen versprechen dem Volk Hilfe und Rettung aus dem sozialen Elend. Trotz des wirtschaftspolitischen Fehlverhaltens und der Gegenpropa ganda der liberalen Presse verbindet Tradition und Glaube viele Menschen mit der Kirche. Doch auch Rauscher und seinen Hirtenbriefen gelingt es nicht, die staatspolitische Stellung der Kirche im vollen Ausmaß zu erhalten. Dennoch, sie ermöglichen, die Bevölkerung anzu sprechen, auf Probleme aufmerksam zu machen und Vorstellungen der Kirche zu verbreiten. Sie sind es auch, die den Kontakt mit den Gläubigen auiVecht erhalten und damit die Verständigung der Kirche zu den Gläubigen festigen. Anmerkungen: *■ Der vorliegende Artikel ist ein Aus zug aus Albert Ettmayer, Die Hirten briefe des Wiener Fürst-Erzbischofs Jo seph Othmar Kardinal Rauscher. Ein Beitrag zur österreichischen Kirchen publizistik. Diss. an der grund- und integratlonswiss. Fakultät der Universi tät Wien, Wien 1982, S. 84-97. ' Gustav Mensching, Soziologie der Religion, Bonn 1947, S. 102. - Beim Antritte des Bisthums Seckau, Hirtenbrief vom 22. April 1849. •' Neue Freie Presse, 26. Februar 1868, Nr. 1254. ' Die Angriffe auf den Kirchenstaat und die Kirche, Hirtenbrief vom 9. Fe bruar 1869. Der Staat ohne Gott, Hirtenbrief vom 28. Jänner 1865. "Ebd. ' Josef Wodka, Kirche in Österreich, Wien 1959, S. 338. " Vgl. Ansprache, gehalten in der, Ver sammlung des Vereins vom Hl. Vincenz von Paul, 8. Dezember 1872, in; Cölestin Wolfsgruber, Hirtenbriefe, Reden, Zu schriften von Cardinal Joseph Othmar Rauscher, Neue Folge, 3. Band, Freiburg i. Br. 1889, S. 275-281. " Josef Lortz, Geschichte der Kirche, Münster-Westfalen '"1950, 391. Mensching (wie Anm. 1) 67. '' Das Christentum und das Staats leben. Hirtenbrief an die Geistlichkeit vom 9. Februar 1860. ' - Horst Knapp, Wirtschaftswissen knapp gefaßt, Wien 1976. '" Beim Antritte des Erzbisthumes Wien, Hirtenbrief an die Landbevölke rung Wiens vom 15. August 1853. 35

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