Wiener Diözesangeschichte 1960 - 1996

Zeitgenossen, daß sich die Kirche selbst hoch in den Mittelpunkt stellt und nicht die Menschen, vornehmlich das soziale Problem. Die Arbeiterfrage hängt eng von den neuzeitlichen Entwicklungen der For schung und Wirtschaft ab. Ein neuer, in seinen Auswirkungen noch nicht ab schätzbarer Wandel ist eingetreten. Er kannt und wahrgenommen werden nur die sichtlichen Ergebnisse dieser Ent wicklung. „Die Fortschritte der Natur wissenschaften", so meint Rauscher, „bringen also dem christlichen Glauben keine Gefahr"."' Gemeint sind wiederum nur die direkten technischen Vorausset zungen, die das tägliche Leben erleich tem. Die Eisenbahn, der Telegraph und letztlich auch die Maschine als sichtba res Zeichen des Fortschritts werden akzeptiert, Konsequenzen, die sich im Gesellschaflsbild ergeben, werden als gesondertes Problem gesehen. Zwar merkt Rauscher den offensichtlichen Zusammenhang zwischen Maschine und Arbeiterschicksal, die weitreichende ge sellschaftliche Bedeutung dieser bleibt ihm aber verborgen.Derm sein Problem ist, ob sich Glaube und Fortschritt ver tragen, ob der christliche Glaube in Gefahr schwebt. Im Hirtenbrief „Staat ohne Gott" kommt er auf diese Frage stellung zu sprechen; „Daß Dämpfe Ortsveränderungen bewirken können, wußte man seit langer Zeit; jetzt hat man sie den menschlichen Zwecken dienstbar gemacht. Sie treiben den Bahnwagen über den glatten Eisenstreif und das Schiff durch die Meereswogen; sie bewegen die Maschine,welche in den Fabriken die Arbeit der Hände ersetzt... In den Linien des Spectrums entdeckte man die Ankündigung von Theilchen des Natriumsalzes, deren es Einundvier zig Millionen bedarf, damit ihr Gewicht dem eines Thautropfens gleich sey..."'' Newtons Erkenntnisse sind also be kannt, die „Tangentialkraft der Plane ten" wurde, wie weiter zu lesen ist, beobachtet und akzeptiert, Die Frage und Schlußfolgerung daraus besteht für den Kardinal im Zusammenspiel Glaube/Kirche auf der einen Seite und Naturwissenschaften/technischer Fort schritt aufder anderen. Der Klerus, meist aus einer höheren sozialen Schicht, bringtfür die Probleme der Arbeiter und einfachen Bevölkerung kein eigentliches Verständnis auf. Man sieht die Ursache der Mißstände in der „moralischen Verkommenheit und reli giösen Lauheit".' Man sieht die Not der Arbeiter, fuhrt sie auf Vergnügungs sucht und Auswüchse des einzelnen zurück und verkennt die wahren Gründe, die dafür maßgeblich sind." Diese Umstände führen zu einer antikle rikalen Haltung, die sich in der Mon archie ausweitet. Unter anderem sind es die ungenügende Seelsorge, die zer störende Arbeit der liberalen Presse und die materialistische und ungläubige Li teratur, welche der Kirche Schwierig keiten bereiten. Doch auch der wirtschaftliche Auf schwung und die Mechanisierung führen in der Bevölkerung zu politischer, sozia ler und kirchlicher Unzufriedenheit.'' Mensching vertritt in einer Untersu chung der Soziologie der Religion die Ansicht, daß durch diese die Volkswerdung verstärkt wird. Auch Rauscher, bekennt sich zur Einheit von Staat und Kirche. Ein Zusammenhang von Reli gion und Wirtschaft wird ebenso festge stellt. Mensching schreibt dazu; „Ein Wandel in der wirtschaftlichen Struktur eines Volkes hat ebenfalls Wirkungen aufdie Gottesvorstellung zur Folge."'" Wie Rauscher in seinen Hirtenbriefen die Wirtschaft einschätzt und welche Rückschlüsse er aus der Religion zieht, sollen die angeführten Beispiele illu strieren. Im Hirtenbrief vom 9. Februar 1860 setzt der Kardinal seine christliche Weltanschauung der Geistlichkeit aus einander. Unter anderem meint er; „Aber mit Dem, was man dem Boden abgewinnt, kann ein gebildetes Volk sich nicht begnügen; es will auch Ge werbstätigkeit und Handel, Fabriken und Eisenbahnen haben. Es ist offenbar, daß hiedurch die christliche Überzeu gung nicht berührt wird. Man kann Handel und Gewerbe betreiben, man kann Fabriken besitzen oder in Fabriken arbeiten und der frömmste Katholik von der Welt sein, ...es kann sich also nur um das Maß der Unterstützung handeln, welches diesen Unternehmungen aus Staatsmitteln zuzuwenden sey... Was zuforderst die Fabriken betrifft, so muß bemerkt werden, daß für ihre Erzeug nisse nicht das selbe gilt, wie für die des Bodens. Je mehr man dem Boden abge winnen kann,desto besser,der Überfluß an Getreide hat noch keinem Staate Schaden gethan. Aber bei den Fabriken geht es wie bei der künstlichen Wärme, deren man im Winter bedarf. Bis zu einem gewissen Grade ist sie wohltätig; was darüber hinausgeht, ist lästig und ungesund."" Die von Rauscher verwen dete Terminologie läßt den Schluß zu, daß er keineswegs ein Experte auf dem Gebiet der Wirtschaft war. Noch klarer und eindeutiger widerlegen jedoch seine falschen Überlegungen eine etwaige Kompetenz. Denn ebenso wie ein Über angebot von industriellen Erzeugnissen, kann auch ein Überschuß von landwirt schaftlichen Produkten den Markt ge fährden.'^ Diese Tatsache war im allge meinen auch schon in jenen Tagen be kannt. Interessant in Rauschers Hirtenbriefen ist die besondere Beziehung, welche er zum Bauernstand hegt. Jedesmal betont er, daß die Früchte des Feldes ein Ge schenk Gottes bedeuten, die der Land mann lediglich zu ernten hätte. Die Beziehung Landwirtschaft-Gott stellt sich für ihn klarer dar als etwa die zur maschinellen Arbeit. Die übernatürli chen Einflüsse, das Wetter, der Regen, der Sonnenschein, aber auch Kälte und Wärme lassen für ihn die unmittelbare Beziehung zu Gott erkennen. Fabriken werden jedoch von menschlicher Hand geleitet, und ihre Produkte entstehen durch manuelle Vorgänge, weshalb ein unmittelbarer Einfluß Gottes nicht er kenntlich ist. Wahrscheinlich liegt darin seine Bevorzugung der landwirtschaftli chen Arbeit. Daß jedoch alle Menschen den Staat erhalten, voneinander abhängen, bleibt auch Rauscher nicht verborgen.Im Hirrtenschreiben an das Landvolk der Erz diözese Wien schreibt der Bischof im Jahre 1853; „Der Landmann, der Hand werker, der Beamte kann nicht In eige ner Person für die Erhaltung der Sicherheit und die Vertheidigung des Vaterlandes sorgen. Dagegen kann aber auch der Handwerker, der Beamte, der Staat, nicht zugleich den Acker pflügen und den Garten bearbeiten. Die ver schiedenen Stände der menschlichen Gesellschaft gehören zusammen."'' Die einfache Sprache und der Vergleich zeigen an,daß diese Worte an das einfa che Landvolk gerichtet sind. Nichtsde stoweniger sind sie von großer Bedeu tung. Das Ineinanderspielen der einzel nen wirtschaftlichen Bereiche wird er klärt. Ein Verständnis, das damals noch keine Selbstverständlichkeit bedeutet, da sich die Arbeiterschaft,die Fabriksar beitergesellschaft bzw. die Industrie erst im Entstehen befindet. Der Stand der Arbeiter ruft nicht nur eine gesellschaft liche Umwälzung hervor, sondern schafft soziale Probleme, von denen das gesamte Volk betroffen ist. Aus diesem Grunde ist die Betonung der Zusam mengehörigkeit aller Berufsgruppen eine gewichtige Belehrung des Volkes. Wie oberflächlich Rauscher die sozia len Konsequenzen behandelt, wie wenig tiefsinnig er sie betrachtet, erkennt man aus seiner Rede die „Christliche Armen pflege der sozialen Frage gegenüber", die er am 8. Dezember 1872 hält; ,,Man möchte glauben,für die Arbeiter sei nun das goldene Zeitalter angebrochen,denn die Löhne haben auch bei uns bereits eine Höhe erreicht, die man vor wenigen Jahren noch für unmöglich gehalten hätte und der berüchtigte Arbeiterbund ist fortwährend damit beschäftigt, den Lohn höher zu treiben und die Zeit der Arbeit herabzudrücken... wenn die Löhne sinken und es nicht immer leicht ist, auch nur Arbeit zu finden..."" Für Rauscher scheint der Plafond der Wün sche der Arbeiterschaft erreicht. Nicht nur dies allein, unter anderem glaubt er, „Wohlstand und die Zufriedenheit der Arbeiter werden durch soziale Sicherheit selten gefordert", vielmehr gelangen sie dadurch in die Schranken des Leichtsinns. Rauscher dürfte hier den wahren Grund für die sozialen Mißstände nicht erkannt haben. Denn kaum ist es der Überfluß, der die Miß stände verursacht, sondern vielmehr ist der niedrige soziale Standard die Ursa che für die Übelstände. Doch wieder einmal steht für Rauscher der Glaube und die christliche Religion und nicht das humanitäre Los im Mittelpunkt sei ner persönlichen Überzeugung. Die Rede wurde ausgewählt und zitiert, weil sie die offensichtliche Kurzsichtigkeit der offiziellen Kirche kraß vor Augen stellt. Ob Löhne steigen oder sinken, überläßt man dem Schicksal,das morali sche Leben der Bevölkerung bedeutet viel mehr. 34

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