Wiener Diözesangeschichte 1960 - 1996

Kanonisten zu einem gewissen Abschluß gebracht. Dennoch verfolgten einzelne Kanonisten die hierokratische Theorie weiter bis ins Extrem, während auf der anderen Seite die Legisten die Lehre von der Unabhängigkeit des Staates vertieften. Neben dem Gegensatz der Vertreter des Konziliarismus (Marsilius von Pa dua, t 1343, und Wilhelm von Occam, t 1347), die im Papst nur den vom Kolle gium der Kardinäle gewählten Reprä sentanten der gesamten Kirche aner kannten, sozusagen eine Superiorität des Konzils über den Papst vertraten, und jenen, die wieder die päpstliche „Plenitudo potestatis" vertraten, wirkte die Not des Abendländischen Schismas, im Anschluß an die über 70jährige Ab wesenheit der Päpste von Rom und ihren Aufenthalt in Avignon, das von 1378 bis 1417 bzw. 1449 andauerte, beson ders verhängnisvoll. Der Nachweis der Unechtheit der Konstantinischen Schen kung, wonach Kaiser Konstantin bei seinem Aufbruch nach Konstantinopel dem Papst das Abendland als Reich überlassen habe, sowie der Pseudoisidorischen Dekretalen, welche diese Nachricht weiter überlieferten, tat ein übriges. Der Sieg des Konziliarismus auf dem Konstanzer (1414-1418) und Baseler Konzil (1431-37/38) und besonders die Reformdekrete des letzteren wurden weitergeführt in der Pragmatischen Sanktion von Bourges (1438), welche diese zum Reichsgesetz erklärten. So kam es zur Devise: „Concilium supra papam". Hingegen räumte das 1448 abgeschlos sene Wiener Konkordat dem Papst wie der größere Rechte ein, es enthält aber leider keine Bestimmungen über die Kirchenreform. Die Reformkonzilien des ausgehenden Mittelalters erkannten wohl alle die anstehenden Probleme mehr oder weni ger und versuchten auch, Abhilfe zu schaffen, deren oftmals überspitzte Rea lisierung jedoch an der römischen Hal tung scheiterte. Dem Trienter Konzil (1545-63), wel ches von Papst Paul III, (1534-49) am 15. März 1545 einberufen wurde, gelang schließlich eine Antwort auf die prote stantische Reformation sowie die Einlei tung einer wirklichen inneren Erneue rung der Kirche durch Erstellung klarer Normen für Theologie und Verkündi gung. Die Fürsten erreichten in vorreformatorischer Zeit in ihren Gebieten jeweils zunehmende Kontrollgewalt über die Kirche. Um die Wende zum 16. Jhdt. setzte sich, mit dem Aufkommen der auf Macchiavelli zurückgehenden Auffas sung von der Staatsräson, jene Ansicht immer mehr durch, welche im Staat die höchste irdische Gewalt erblickt und die Kirche als einen Teil seiner Herrschaft einordnete. Unter Papst Julis II. (1503-1513) er langte der Kirchenstaat, dessen Bestand im 14. Jahrhundert während der 70jährigen Abwesenheit der Päpste von Rom oftmals gefährdet war, nicht ohne Kriegsgewinne, seine größte Ausdeh nung. Die Reformation, welche mit dem Thesenanschlag Martin Luthers (1483-1546) am 31. Oktober 1517 an der Tür der Schloßkirche zu Wittenberg und den darauf folgenden Ereignissen eine breite Bewegung auslöste, in der sich verschiedenste Gruppen und Strömun gen im Kampf gegen die römische Papstkirche zusammenfanden, wandte sich zunächst ebenfalls gegen die über kommene Ordnung im Verhältnis von Kirche und Staat. Sie schränkte die kirchliche Jurisdiktion ein, vertrat aber zugleich die Unabhängigkeit vom Staat. Die politische Macht der Territorial fürsten sollte sich aber bald als stärker erweisen, was zur Ausbildung des Landeskirchentums führte. Aber auch in nerhalb des katholischen Bereiches wuchsen nationalkirchliche Tendenzen, bedingt durch fürstliche Privilegierungen bzw. durch Beharren auf gewohn heitsrechtlichen Gegebenheiten. Dies führte zu einem langsamen, aber stetig steigenden Einfluß des Staates auf die Kirche. Grundsätzlich blieb aber eine weitge hende Verbindung von Staat und Kirche auf den meisten Gebieten erhalten, im 16. Jhdt. vor allem begünstigt durch die Tatsache, daß der Staat, zur Aufrecht erhaltung seiner eigenen Einheit, auf die Einheitlichkeit des religiösen Bekennt nisses innerhalb seiner Grenzen großen Wert legte. Im Zeitalter des konfessio nellen Absolutismus und des Landeskirchentums galt die Religion als das vor nehmste Regal; dies äußerte sich auch deutlich in der Devise ,,Cuius regio, eius religio". Allerdings milderte bereits das ,,ius emigrandi" diesen harten Grund satz ein wenig. Der Augsburger Religionsfriede, der Reichsfriede vom 29. September 1555, brachte die jahrzehntelangen Religions und Verfassungskämpfe im Reich vor läufig zum Abschluß und schuf der Reformation die vom Protestantismus mit der Anerkennung der Augsburger Konfession schon längst angestrebte öf fentliche Rechtsgrundlage. Der Westfälische Friede, zum Ab schluß des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648)am 24. Oktober 1648 in Mün ster unterzeichnet, fixierte und sicherte nun die volle Gleichberechtigung der Konfessionen und setzte für den Besitz stand an Kirchengut und das Recht auf öffentliche Religionsausübung das Jahr 1624 fest. Inzwischen war die im Mittelalter begründete ständische Ordnung infolge der wirtschaftlichen und sozialen Wand lungen zerfallen, der aufkommende auf geklärte Absolutismus, welcher die Herrschaft durch den Wohlfahrtsgedan ken rechtfertigte, bedeutete eine weitere Stärkung der Staatsgewalt. An die Stelle des mittelalterlichen Reiches und der allgemeinen Christen heit war das Europa der älteren und neueren Nationalstaaten, mit ihren auch überseeischen Interessen, getreten. Die im Lauf der Zeit ausgebildeten Kirchenhoheitsrechte des Staates wur den folgerichtig im 17. und 18. Jhdt., auch von katholischen Herrschern, oft hart und bis zur äußersten Grenze ge hend,angewandt: Das aus dem ius advocatiae sive protectionis abgeleitete ius cavendi (= Recht der Abwehrmaßnah men gegen eine Schädigung staatlicher Interessen durch die Kirche), das ius inspiciendi (= Aufsichtsrecht), das ius appellationis, das Placet und das Aus schließungsrecht bei Bischofs- und sogar Papstwahlen. Die im 17. Jahrhundert ausgebildete naturrechtliche Theorie des Staates und der Kirche ließ die Auffas sung von der Kirche als des mystischen Leibes Christi zugunsten vordergründi ger, z.T. aus dem staatlichen Bereich übergreifender Theorien zurücktreten. Als höchste und einzige positive Au torität, als Summe der vernunftbegabten Einzelindividuen und ihrer Rechte, und damit zugleich als die Zusammenfassung und Darstellung aller Vernunft und al len Rechts, wird der Staat gesehen. Der Wille des Staates ist daher als der verei nigte Wille aller Individuen völlig abso lut. Seine vornehmsten Aufgaben sind daher der Schutz der Freiheit des Indivi duums und dessen Förderung in ver schiedenster Hinsicht. Diese Freiheit des aufgeklärten Individuums schloß die Ge wissens- und Religionsfreiheit mit ein. Vor allem in der katholischen Kirche als Gesamtorganisation sah die Aufklärung aber eine Gefahr für die staatliche Sou veränität. Daher wurde das bestehende Staatskirchentum theoretisch und prak tisch noch ausgebaut, nicht zuletzt, um den Einfluß der Religion auf das morali sche Verhalten der Menschen im Sinne der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung zu nützen. Das Papsttum, dessen autoritative Stellung innerhalb der Kirche und ihrer Lehre dem Denken der Aufklärung zu wider war, wurde scharf bekämpft. Theoretisch wurden die Angriffe durch einen neu auflebenden Konziliarismus vorgetragen. Dieser fand praktische An hänger in verschiedenen, je nach dem Ort, bzw. den Initiatoren benannten Systemen, wie z,B. dem Gallikanismus in Frankreich, dem Febronianismus in Deutschland, benannt nach dem Pseud onym Justinus Febronius, hinter wel chem der Trierer WeihbischofJo. Nik. v. Hontheim (t 179()) stand und dem Jose phinismus in Österreich, jener nach Kaiser Joseph II. (1741-90) benannten Periode, in der die Kirche in den österreichisch-habsburgischen Ländern eine weitere Trennung vom Staat erfuhr, dieser aber in ihre Verwaltung, ein schließlich ihres Vermögens, weitge hend eingriff und so einen Höhepunkt des Staatskirchentums bedeutete. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts übernahm der Staat somit von der Kir che bestimmte bürgerliche Bereiche, wie Schule. Ehe, Begräbnis und auch die Gerichtsbarkeit. Damit begann eine Ent wicklung, welche ihren Abschluß fand in dem säkularisierten Staat des 19. Jahrhunderts. Die Trennung von Kirche und Staat wurde zuerst in fViedlicher, aber voll ständiger Weise im Jahr 1787 in der Verfassung der Vereinigten Staaten fest gesetzt; 1794 bis 1801 wurde sie in Frank reich im Zuge der Französischen Revo-

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