Wiener Diözesangeschichte 1960 - 1996

Scharfetter, B. Staehelin u. a. m). Folge richtig bedarf es einer zusätzlichen Aus bildung, theoretisch und praktisch. Ge schichtlich und geistesgeschichtlich gibt es für dieses Bemühen ein Vorbild in der Erzdiözese Wien; Vor 100 Jahren, 1888, erschien die erste deutschsprachige Pastoralpsychia trie. 1874 hatte der Ordinarius für Pa storaltheologie an der Katholisch-theolo gischen Fakultät der Universität Wien, der Schottenmönch Anselm Ricker, in seinem Leitfaden der Pastoraltheologie ein Kapitel über die pastorale Betreuung Geistesgestörter eingefügt und 1873 so wie 1877/78 und 1883 Vorlesungen über pastoral-psychiatrische Fragen gehalten. Die Zeit in der Anselm Rickers Pastoral psychiatrie erschien, 1888 in erster, 1889 in zweiter und 1894 in dritter Auflage, diese Zeit ist geprägt durch eine neuer liche Konfrontation von Glaube und Wissen, insbesondere von Glaube und Medizin. Die romantische Medizin theologisierender Psychiater verblaßt, die Auseinandersetzungen der Somatiker und Psychiker spiegelt die Position der somalischen Psychopathologie der Hochscholastik wider.Für W.Griesinger ist Irresein eine Hirnkrankheit - in geistesgeschichtlicher Entsprechung fin det sich bei Thomas von Aquin die amentia - als Oberbegriff für Geistes krankheit - als somalische Erkrankung: amentia ex debilitate organi,ex aegritudinibus, ex senectute, ex ebrietate. Aber A. Ricker schreibt nicht nur von soge nannten geistigen Störungen, die wir heute als Psychosen bezeichnen würden, sondern auch von neurologischen, psy chopathischen und psychosomatischen Zustandsbildern. Wenige Jahre später beginnt der (letztlich gescheiterte) Ver such der Psychoanalyse, Religion als psychischen Infantilismus imd kollek tive Neurose zu deklarieren und Seel sorge ausschließlich für sich, für die tiefenpsychologische Psychotherapie in Anspruch zu nehmen.Irrenseelsorge als Seelenführung spezifischer Art soll durch Psychotherapie, für die Religion ein Scheinproblem ist, ersetzt werden. A. Ricker gibt den Ort der Pastoral psychiatrie im Bereich der Seelenfüh rung an: „Die pastorale Einwirkung des Seelsorger auf das Gemüth wird das geistliche Trostamt oder die pastorale Tröstung genannt; sie beschäftigt sich mit jenen, deren Gemüth durch Leid und Unglücksfälle ergriffen ist." Der Trost als mitmenschliche Aufgabe ist dem Arzt nicht fremd; gerade in Wien hat sich das Leitbild des Trostes mitdem der HeUung unauslöschlich eingeprägt: saluti et solatio aegrorum.Ricker nimmt die Pflicht zum Trost sehr ernst und verlangt eine pastoralpsychiatrische Ausbildung für den Seelsorger. Ricker hat sich des differentialdiagno stischen Anliegens der Pastoralmedizin besonders angenommen, der (alten) discretio spiritum; und zwar bei der Erörte rung der Dämonomelancholie, der Aus nahmezustände Heiliger und in Hinwei sen auf die Süchte. Er hat mit Nach druck die Eigenständigkeit religiöser Phänomene betont, die weder aus Plusnoch aus Minusvarianten psychischer Vermögen und Haltungen innerwelt licher Natur abgeleitet werden können. Bei Anselm Ricker kam es zu einer Vereinigung zweier Ströme des Den kens: dem der Tradition thomanischer und thomistischer Anthropologie und dem der Psychopathologie und human biologischen Psychiatrie. Beiden gilt das Gehirn als bevorzugtes Instrument der Seele, für beide kann die Geistseele als immaterielle Substanz uns als immate rieller Bau- und Funktionsplan nicht erkranken, beide verstehen Geistes krankheiten folgerichtig als Gehirn krankheiten. Für Ricker gesehen führt dieser Weg über den Pastoraltheologen I. Schüch zu dem thomistischen Philoso phen A.Stöcklsowie zu den Psychiatern M. Leidesdorf und R. von Krafll-Ebing, zu W. Griesinger. Der Kern von Rickers Überlegungen, die Frage nach dem We sen der menschlichen Seele und dem Wesen der Geisteskrankheiten, jener Krankheiten, die dem Menschen gewis sermaßen vorbehalten sind, ist in der gegenwärtigen Psychopathologie und Psychiatrie lebendig geblieben; ebenso der Beantwortungstypus Rickers, seine Antwort; freilich ohne daß er selbst, heute vielfach unbekannt,genannt wird. Sowohl der scholastische Seelenbegriff wie die Auffassung der Geisteskrankhei ten als Gehirnkrankheiten haben ihre Wirkkraft bis in die heutige Neurophysiologie und Psychopathologie bewahrt. Rickers Grundideen lassen sich in den philosophischen und psychiatrischen Überlegungen der Gegenwart immer wieder finden (K. Jaspers, Fl. Lauben thal, P. Chauchard, V. E. Frankl, R. Kautzky). Der instrumentale Charakter des Gehirns - als Instrument der Seele, als Organ der Freiheit - erhellt aus der Tatsache, daß geistig-seelische Lei stungen nicht ohne jenes möglich, aber mit cerebralen Funktionen nicht iden tisch sind. Der Freiheitsraum für gei stige Leistungen, der sich aus dem in strumentalen Charakter der cerebralen Funktionen versteht, gibt nicht nur die Möglichkeit einer Psychotherapie (im weitesten Sinne des Wortes), sondern ermöglicht auch die Betreuung seelisch Leidender und „geistig Kranker" durch den Seelsorger. Ricker hat mit wissen schaftlicher Akribie vorweggenommen, was uns heute als eine spezialisierte Form der Krankenseelsorge vertraut geworden ist. A. Ricker hat selbst Kranke besucht und Pastoralpsychiatrie als aktive Seelsorge verstanden mit einem wohlüberlegten Fundament aus Theologie und Psychiatrie. Literatur: Elisabeth Koväcs/Gottfried Roth, Anselm Ricker und seine Pastoralpsychiatrie (Wien 1973). Streiflichter zur Aufhebung des Knabenseminars Holiabrunn im Jahr 1938 Von Michael Gstaltmeyr Eine der schwerwiegendsten Folgen der nationalsozialistischen Machtüber nahme in Österreich im Jahr 1938 war auch die Aufhebung aller Knabensemi nare der katholischen Kirche. Von die ser Maßnahme war auch das Knabense minar in Holiabrunn betroffen. Diese Ereignisse wurden bereits vom derzeiti gen Erzbischof von Wien ausführlich dargestellt'. Die folgende chronologische Übersicht faßt seine Ereignisse zusam men.Ergänzend sollen der Bericht eines damaligen Tertianers sowie die Fest rede, die der damalige Rektor, Joseph Ettl, zur Wiedereröffnung des Seminars im Jahr 1946 hielt, das Geschehen aus der Sicht immittelbar Betroffener kom mentieren. Chronik der Ereignisse: 1937 September;302 Zöglinge beginnen das Schiüjahr 1937/38. 1938 11. März: Rücktritt der Regierung Schuschnigg. 12. März; Einmarsch deutscher Trup pen in Österreich. 13. Marz: Gesetz über die „Wiederver einigung Österreichs mitdem Deutschen Reich". 10. April: „Volksabstimmung" über den Anschluß Österreichs an das Deut sche Reich. 21. und 29. April: Verhandlungen zwi schen dem Diözesan-Jugendseelsorger Martin Stur und dem Beauftragten des Jugendführers des Deutschen Reiches über das Verhältnis der Seminaristen zur Hitler-Jugend. Ergebnis: von einer Zugehörigkeit der Seminaristen zu HJ soll abgesehen werden. Juni; Abtretung des Vorstehergartens an die Stadtgemeinde Holiabrunn. 2. Juli: Rektor Ettl lehnt die von Rentmeister Msgr. Franz Schiebel vor geschlagene Verlegung des Obergymna siums nach Wien ab. 22. Juli; Der Landesschulrat für Nie derösterreich teilt die Erlaubnis zur Weiterführung des humanistischen Zweiges am Hollabrurmer Gymnasium mit. August: Die Kreisleitung Holiabrunn der NSDAP fordert die Seminarvorstehung auf, die Professorenvilla für Kanz leizwecke der NS-Organisationen zu vermieten. 22. August: Anforderung von Räumen im Seminargebäude für Kanzleizwecke. 24. August: Ausbruch der Sudeten krise. 45

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