Wiener Diözesangeschichte 1960 - 1996

möglich. Daher nahmen Beratung und Hilfeleistung in allen Auswanderungsan gelegenheiten einen breiten Raum ein. Die Auswanderung nahm in den ersten Monaten des Jahres 1941 ständig zu und steigerte sich schließlich auf 50 bis 60 Fälle täglich. In Zusammenarbeit mit anderen Hilfsorganisationen, mit der Schwedischen Mission, der Auswande rungshilfsaktion, in Kontakt mit dem St.-Raphaels-Verein in Hamburg sowie mit den übrigen katholischen Hilfskomi tees wurden Kontakte nach Rom,Lissa bon, New York und Buenos Aires herzu stellen versucht. Diese Arbeit war mit größten Schwierigkeiten verbunden:Be schränkte Ausreisemöglichkeiten über haupt, Mißverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage bei den SchifTsplätzen, komplizierte Vorschriften bei der Be schaffung der notwendigen Dokumente. Besonders tragisch war auch, daß das größte Projekt scheiterte: 3000 Visa, welche Brasilien Papst Pius XII. in Aussicht gestellt hatte, verfielen, weil mannigfache Krisen im Land die Aus stellung so lange hinauszögerten, bis es zu spät war. Der Kardinal erkannte klar die Be deutung der Auswanderung als einzige wirklich wirksame Rettungsmöglichkeit. Er steuerte aus eigener Tasche immer wieder große Geldsummen bei. Er ver suchte, mit den nur ihm möglichen Mitteln mehr Möglichkeiten zur Aus wanderung zu Schäften: Schon im Mai 1938 schrieb er an eine Reihe ausländi scher Kardinäle um Hilfe,er förderte die Gründung der Beratungsstelle für ka tholische Auswanderer des Caritas-Insti tuts, und er brachte das Problem auch wiederholt in die Österreichische Bi schofskonferenz. Die verzweifelte Lage, das offensichtliche Versagen auch kirch licher Stellen im katholischen Ausland, die zunehmende bürokratische Erschwe rung jeglicher Hilfeleistung veranlaßten ihn schließlich, sich am 20. Jänner 1941" direkt an den Papst zu wenden. Dieser Briefwechsel macht die traurige Tat sache deutlich, daß letztlich nicht annä hernd so viel geholfen werden konnte, wie es möglich gewesen wäre, weil eine Reihe von Faktoren die Hilfe sehr er schwert haben: die Devisenlage im In land, die harten Ausreisebestimmungen, die Zurückhaltung des Auslandes gegen über einer Einwanderung aus NSDeutschland, die großen Widerstände mancher Länder gegen eine Einreise von Nichtariern, die große Unkenntnis auch im katholischen Ausland über das wirkliche Ausmaß der Judenverfolgung, über die Auswirkungen der Nürnberger Gesetze auch für Getaufte usw. So lie ferten tatsächliche und künstlich herbei geführte bürokratische Schwierigkeiten mitunter einen nicht unwillkommenen Vorwand, um immer wieder hier und dortJuden nicht aufnehmen zu müssen. Am 25. Juni 1941 wurde der St.-Ra phaels-Verein in Hamburg durch die Gestapo aufgelöst. Am 1. Oktober 1941 erfolgte durch Himmler das Verbot der Auswanderung der Juden. Nach der hermetischen Schließung der deutschen Grenzen für jüdische Auswanderer im November 1941 trat als weiteres logi sches Glied in der Kette der Maßnah men zur Vernichtung der Juden die Deportation in die eroberten und besetz ten Gebiete des Ostens in den Vorder grund. Juden aus ganz Europa wurden in der Folge dort unter den furchtbar sten Verhältnissen zusammengepfercht, die Arbeitsfähigen unter ihnen wurden bei unzureichender Ernährung bis zum Umfallen ausgebeutet. Mit 1. September 1941 trat eine wei tere für die konsequente Ausfindigmachung auch wirklich aller Juden, vor allem in der Anonymität der Großstadt, bestimmte, besonders niederträchtige Verordnung in Kraft: „Die Polizeiver ordnung über die Kennzeichnung der Juden."" Allen Juden,die das 6.Lebens jahr vollendet hatten, war es fortan verboten,sich in der Öffentlichkeit ohne den Judenstern, der sichtbar auf der linken Brustseite des Kleidungsstückes fest aufgenäht zu tragen war,zu zeigen. Vergehen gegen diese Verordnung wur den mit Gefängnis und Deportation be straft. Diese Maßnahme traf die jüdische Bevölkerung besonders hart. Viele trau ten sich nicht mehr ihre Wohnungen zu verlassen, aus Furcht vor Belästigungen und Schikanen. Auch Tausende Katholi ken jüdischer Abstammung waren da von betroffen. Viele blieben daraufhin dem Gottesdienst und Sakramenten empfang fern, um Unannehmlichkeiten aus dem Weg zu gehen. Mit Datum vom 17. September 1941 erließ Kardinal In nitzer ein Hirtenwort'" zu diesem An laß, für dessen Inhalt er persönlich verantwortlich zeichnete. Dieses Hirten wort, das dann auf Betreiben der Ge stapo nicht verlesen werden durfte, das aber trotzdem zur Kenntnis genommen wurde, ist ein eindrucksvolles Zeugnis seiner Gesinnung und seiner Hirten sorge, nicht nur um die ihm anvertrau ten nichtarischen Katholiken, die durch die Taufe zu Brüdern und Schwestern geworden sind, wie er feststellt. Viel mehr spricht er, eindeutig und unüberhörbar, alle Menschen in Not, also auch die Glaubensjuden, an und ermahnt die Katholiken zur „Liebe ohne Grenzen". Wörtlich meint der Kardinal:„...möchte ich euch erinnern, daß ein Christ, ohne die Liebe, wie sie Christus, der Herr, versteht, nicht den Namen eines Chri sten verdient. Und diese Liebe...kennt keine räumlichen Grenzen, sie macht keinen Unterschied der Person,sie wen det sich vor allem denen zu, die durch ihre größte Not und Hilfebedürftigkeit uns Nächste geworden sind..." Dieses Hirtenwort ist ein wirklich historisches Wort. Mit ihm spricht der Kardinal ganz deutlich alle Verfolgten an, gleichgültig, ob sie der katholischen Kirche ange hören oder nicht. Wichtig ist allein, jedem, der es notwendig hat, zu helfen, ohne Ansehen seiner Rasse oder seiner Religion. Das war ein wirklich mutiges Wort in jenen Tagen, da Hitler sich entschloß, die Menschen jüdischer' Rasse, die sich in seinem Machtbereich befanden, „auszumerzen". Daß die Machthaber damit keine Freude hatten, versteht sich. In den Jahren 1939 bis 1945 wurden insgesamt 67.500 Menschen deportiert, rund 200 von diesen überlebten, dem nach beträgt die Gesamtzahl der im Dritten Reich ermordeten österreichi schen Juden rund 65.000. Die Zahl der" nichtarischen Katholiken herauszufin den, ist nicht leicht. Denn bei vielen Transporten fehlten die Konfessionsan gaben. Nach Schätzungen der Israeliti schen Kultusgemeinde haben die Kata strophe der Verfolgung etwa 193 nicht mosaische Juden, darunter etwa 91 röm.-kath., überlebt. Die Aushebungen erfolgten bei Tag und Nacht, ohne vorhergegangene Ver ständigung. Nur wenige Stunden blieben den Menschen zum Verpacken ihrer wenigen Habseligkeiten. Alle Versuche des Kardinals, über kirchliche und au ßerkirchliche Stellen, diese Transporte zu verhindern, blieben ohne Erfolg. So tat die Hilfsstelle, was sie tun konnte: in einzelnen Fällen gelang es, Schützlinge von den Listen streichen zu lassen, oder wenigstens einen Aufschub zu errei chen. Die Abreisenden wurden mit Geld, Wäsche, Kleidung und Decken versorgt. Mit den nach Polen Deportier ten konnte ein relativ intensiver Brief wechsel bis Mitte 1942 aufrecht erhalten werden. Dann ging dieser mehr und mehr zurück und hörte schließlich auf. Auch die Korrespondenz mit Theresien stadt entwickelte sich. Bis Ende 1943 waren der Hilfsstelle etwa 150 Anschrif ten bekannt. Die Korrespondenz bedeu tete für diese Menschen vor allem eine große seelische Hilfe. Ab Weihnachten 1942 wurde mit Paketsendungen nach Theresienstadt begonnen. So wurden, wie aus den Aufzeichnungen ersichtlich ist, im Jahr 1942 zunächst 20 bis 50 Pakete monatlich, ab Juli 1943 monat lich 200 Pakete, im Jahr 1944 insgesamt 7277 Zweikilopakete verschickt. Da es sicher war, daß alle Juden Wiens deportiert werden sollten, somit auch die nichtarischen Katholiken, wurde versucht, diese auf ihr zukünfti ges Leben, allein, ohne Kirche und Priester, ohne Sakramente und Gottes dienst, vorzubereiten. In einem wöchentlich zusammenkommenden Kreis von Mitarbeitern und geeigneten nichtarischen Katholiken wurde alles durchbesprochen, was letztlich auf sie zukommen könnte, wie unter diesen Umständen trotzdem ein christliches Leben weitergeführt werden könne, wie man für andere Trost und Kraft aus dem Glauben schöpfen könne, wie man Kranken und Sterbenden beistehen, wie man Kinder taufen und Gottesdienste feiern könne. Das Wertvollste, was die sen Menschen mitgegeben wurde, war, im Einvernehmen mit Kardinal Innitzer, ein Behälter mit Hostien. Dies wurde ihnen mitgegeben für die Stunden äu ßerster Not und Gefahr. So begleitete diese Menschen zwar kein geweihter Priester, dafür aber der Herr selbst auf ihrem Weg in den Tod. In Theresienstadt bildete sich eine kleine katholische Gemeinde, die sich zum großen TeU aus Mitgliedern der Hilfsstelle zusammensetzte. Es wurden eine eigene Gemeindechronik und ei-

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