Wiener Diözesangeschichte 1960 - 1996

(SPÖ)mit Übergehung der Direktion die Belegschaft versammeln wollte. Dies geschieht besonders gern, wenn der Chef ein unsozialer „Christlicher" ist. - Am besten geht die Arbeitermission in den Provinzstadten, wo die Fabriken und Arbeiterwohnungen innerhalb der missionierten Pfarre liegen. Total anders liegen die Verhältnisse in Wien, wo die Arbeiter mit der Straßenbahn kommen und nach Arbeitsschluß ebenso wieder heimfahren. Es war interessant, wie in den Steyrwerken der Betriebsrat sel ber auf die Mission de Paris zu sprechen kam, und ich ihnen dann erzählte, daß die Fiat-Werke in Turin, mit denen die Steyrwerke aufs en^te zusammenar beiten, eine Betriebspfarre haben,so wie früher bei uns die Militärpfarre war, so daß jeder Betriebsangehörige mit seiner Familie zur Betriebspfarre gehört. Erst wenn einmal die Recherchen über die „Arbeiterseelsorge der Welt" zusam mengefaßt sind-am interessantesten ist in dieser Hinsicht Amerika werden wir ungefähr wissen, was es an Formen und an Methoden der Arbeiterseelsorge gibt. Es gab aber auch den ganz umgekehr ten Weg, daß sich die Fabrikstore erst öffneten, nachdem ich einige Predigten in der Kirche absolviert hatte, weil die Arbeiter erst abwarteten, „wie er einge stellt ist". Mit all dem ist aber erst die Verbin dung zur Masse und noch nicht zum einzelnen gegeben. Die Verbindung zum einzelnen schafft die Sprechstunde. Es ist unglaublich, wie oft Menschen jahrelang warten, bis sie jemanden fin den, mit dem sie sich über ihre ureigen sten seelischen Nöte aussprechen kön nen. Da frage ich einen Arbeiter: „Wieso sind Sie zu mir in die Sprechstunde gekommen?",,Ein Kollege sagte mir:Du gefällst mir schon ein paar Wochen nicht, was hast denn,hast vielleicht eine andere? Paß auf, der Arbeiterpriester ist da,geh hin, red dir alles von der Seel!" Es kommt auch der Ingenieur,es kommt die Jungarbeiterin. Vier Stunden im Tag sind gewöhnlich als Sprechstunden an gegeben. Hier heißt es mit dem Herzen denken. Was in der Sprechstunde vorge bracht wird,steht wie unter dem Siegel des Beichtgeheimnisses. Das Herz muß in diesen Aussprachen von selber das richtige Taktgefühl geben, und jeder muß das Gefühl haben: was hier gespro chen wird,geht mit dem Arbeitermissionar mit ins Grab. Die Leute, so einfach und anspruchslos sie sonst sind, pochen mit Recht darauf, daß sie von uns wie Kostbarkeiten genommen werden und vollster Verschwiegenheit würdig befun den werden. Genau dasselbe, was auch wir für uns erwarten. In der Sprech stunde spricht der Arbeiterseelsorger als Kamerad zum Kameraden. Und ich ge stehe, daß ich nicht das absolut Voll kommene,sondern das relativ Vollkom mene verlange, was in diesem Einzelfall ohne Heroismus möglich ist, denn He roismus ist nicht Sache der Masse. Und bis zur sakramentalen Beichte ist noch ein weiter Weg. Bei einem Kleruskonveniat in einer Stadt, in der bereits zwei Pfarren eine religiöse Woche gehabt hatten,sagte der dritte, ein Ordenspfarrer: „Ich lasse keine halten. Schauen Sie,jeden Abend war die Masse da, aber zur Beichte sind sie doch nicht gegangen." „Lieber Herr Pfarrer, seien Sie froh, wenn diese Masse,die man sonst nicht in der Kirche sah, wenigstens acht Tage wieder an Gott gedacht hat. Freilich, Wunder ge schehen keine, und es ist ein Gnaden wunder, wenn ein Mensch von heute auf morgen sich bekehrt. Es wäre auch eine Schande für die Pfarrseelsorge, wenn dem Missionär in einer Woche das ge länge, was Ihnen in 20 Jahren pfarrli cher Tätigkeit nicht gelungen ist." Das Normale sind aber die vielen Pfarrer, die dankbar sind, daß durch diese außeror dentliche Seelsorge sie wieder einmal den Großteil ihrer Pfarre in der Kirche sahen; dankbar für jeden, der gekom men ist; für so manchen, den man sonst nie in der Kirche sah; dankbar für diejenigen, die wieder zur Kirche zu rückfanden, und dankbar für die Hoff nung, daß wenigstens viele unter ihnen im Sterben den Priester verlangen wer den. Und manche finden ja doch auch den Weg zum Beichtstuhl. „Pater, ich bin ein Arbeiter, und sie haben mit mir in der Fabrik gesprochen. Sie wissen ja, was in so einer Fabrik alles vorkommt." Und wenn nicht ein ganz evidenter obex der Lossprechung entgegensteht, spre che ich immer los, im Gedanken an Dich, qui Mariam absolvisti et latronem exaudisti! Und in dubio Semper standum est pro reo. Nun zur Maiandacht der Arbeiter. Viel umstritten, hat sie von allen meinen Versuchen in der Arbeiterseelsorge die breiteste Resonanz gehabt und die mei sten Femstehenden gesehen. Vieles wurde ihnen klar, manche Seele wurde gerettet. Darüber bitte im „Seelsorger", 19. Jahrgang,Februar 1949, Seite 238 bis 244 die Erkenntnisse und Erfahrungen aus der Maiandacht der Arbeiter nach zulesen. Hier kam der Kontakt aus dem Inhalt der Predigten und Vorträge, die die „Lebensprobleme von heute" behan delten. Eine Arbeiterin sagte mir einmal auf der Straße: „Ich war bei allen Mai predigten. Wir alle aus der Fabrik. Wis sen Sie, so etwas kann man sich nicht erzählen lassen. Da muß man dabei gewesen sein. Wie das Problem aufge rollt wird, und dann gibt man acht wie ein Haftelmacher, wie das Problem ge löst wird." Und dann fügte sie noch hinzu: „Hochwürden, san ma ehrlich, das waren ja gar keine Predigten,das ist ja alles uns augaunga." Die „Lebenspro bleme" veranlaßten einen Sturm von Zuschriften pro und contra. Einer brachte den andern. Es ergab sich stati stisch, daß zwei Dritte! der Zuhörer für mich, ein Drittel kontra eingenommen waren. Aber sie kamen alle. Seitdem schicken wir vor der Maiandacht der Arbeiter zehntausend Briefe aus, in de nen die Arbeiter aufgefordert werden, die Probleme, die ihnen jeweilig auf der Seele brennen,selber vorzuschlagen zur Erörterung. Wenn ich sage, „das scheint mir die beste Lösung dieses Problems zu sein",so erwähne ich gar nicht, daß dies die X^sung der Kirche ist, das würde eher abschrecken. Hauptsache, daß christliche Ordnung ins Leben kommt. Zu vielen Menschen darf man weniger von Gott reden, man muß sie mehr zu Gott fuhren. „Nicht, wer sagt: Herr, Herr, ...sondern wer tut!" Kein Monat wie gerade der Mai mit seinem neuen Hoffen und Lebenserwachen ist so ge eignet; außerdem hat er sicher den besonderen mütterlichen Segen der Mutter aller Arbeiter. Im Mai, da denke ich an den Wunderteich Bethsaida, wo der Kranke in äußerster Hilflosigkeit und Verlassenheit am Boden lag. Wäh rend der erste, der beim Kommen des Engels hineinstieg, geheilt wurde, von welcher Krankheit auch immer, wurde der Mensch, der seit 38 Jahren krank war, nicht geheilt, weil ihn niemand an den Teich brachte. „Hominem non habeo!" Bei der Maiandacht der Arbeiter brachte immer einer den andern, und der wieder einen andern, und wir er kannten, daß alle seelische Krankheit dieser Welt in der Unordnung, in der Sünde ist, und jeder hörte das Heilands wort: „Siehe, du bist gesund geworden, sündige nun nicht mehr!"Es kommt viel Irrung und Verwirrung, viel Fehl und Schuld in diesem Monat zum Arbeiterseelsorger. Aber so istja das Leben. Gott braucht Menschen. Noch mehr braucht der Arbeiter Menschen. Er kommt nicht in Berührung mit den politischen und Gewerkschaftsführern; die politische und gewerkschaftliche Bü rokratie hat sich weitgehend selbständig gemacht; der Arbeiter braucht nur seine Stimme am Wahltag abzugeben und seinen Mitgliedsbeitrag zu zahlen, dar einzureden hat er nichts. Für den einfa chen Arbeiter sind von Bedeutung: der Hortleiter, dem er während der Arbeits zeit seine Kinder anvertraut, der Be triebsfürsorger, der Leiter des Lehrlings heimes, in dem sein Junge unterge bracht ist, der Sozialreferent der Fabrik, der Betriebsratsobmann, die Leute bei der Sozialversicherung und Kranken kasse. Für all diese und noch mehr Berufe der Welt der Arbeit, für diese sozialen Berufe,die erst in den letzten 30 Jahren entstanden sind, gibt es noch keine gründliche und fachliche Berufs schule. Das veranlaßte die Kalasantinerkongregation für die Arbeiter zur Grün dung des Seminars für soziale Berufe, einer zweijährigen Fachschule mit tägli chem Unterricht. Wir arbeiten vom Ge sichtspunkt des Arbeiterapostolates aus. Wir sind Utopia! Das Seminar der sozia len Apostel, der Arbeiter für Arbeiter! Die erste soziale Männerschule Öster reichs ist eine konfessionelle! Wir ver schieben nicht die Probleme in die Zu kunft, wir wollen nicht wieder einmal um 50 Jahre zu spät kommen. Diesmal sind wir Avantgardisten. Selbst ein So zialist sagte: „Das ist die Ehrenrettung der Kirche Österreichs." Das sind ein mal bei unserer Priesternot unsere „Industriekapläne". Dann werden allmählich die antiklerikalen Affekte in der Arbei terschaft verschwinden. Über das Semi nar für soziale Berufe hat der „Seelsor ger" öfter und ausführlich seine Leser informiert. Wir kommen nun zum größten Verein 10

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