Madonna mit dem Kind sichtbar,darun ter der Vogel Phönix auf einem Schei terhaufen als Symbol der Auferstehung. Bei näherer Betrachtung erkennt man,daß das Reliquiar trotz seiner rein gotischen Formen offenbar kein Origi nalstück aus dem Mittelalter ist,sondern eine Rekonstruktion jüngeren Datums sein muß. In der Tat hat erst im Jahr 1902 anläßlich der Ordnung und Neuaufstellimg der Reliquien die Domkustodie den Auftrag erteilt, für diese seit altersher vorhandenen, zuletzt aber seit län gerer Zeit nur unzulänglich verwahrten Reliquien einen neuen silbervergoldeten Schrein anzufertigen. Den Entwurf da für lieferte ein Architekt der Dombau hütte, der sich dabei an eine alte Abbil dung des ursprünglichen Reliquiars hal ten konnte; die Ausführung besorgte ein Wiener Bronze- und Goldwarenfabri kantum den Preis von 5600 Kronen. Es ist nicht bekannt, von wem, wann imd wo die beiden Kranien erworben wurden und wann sie in den Wiener Domschatz gelangt sind, wo sie bereits in den ältesten Reliquienverzeichnissen erscheinen. Doch hängt dies wahr scheinlich aufdas engste mit der medizi nischen Fakultät der Wiener Universität zusammen,die in der folgenden Zeit die Verehrung der beiden Heiligen in ganz besonderer Weise gepflegt hat. Die Wiener Universität wurde im Jahr 1365 von Herzog Rudolf IV. aus dem Hause Habsburg gegründet. Da Rudolf bereits wenige Monate danach starb, ging die Entwicklung der Hochschule zunächst nur zögernd vor sich. Das betrafbesonders die Medizin. Es änderte sich erst, als es im Jahr 1383 gelungen war, einige hervorragende Lehrer aus Paris zu gewinnen.Deshalb und weil die Wiener Universität bereits bei ihrer Gründung weitgehend dem Vorbild der Pariser Universität gefolgt war, be kannte sie sich geradezu als eine „Toch ter von Paris". Nun erneuerte im Jahr 1384 Rudolf Bruder und Nachfolger Herzog Albrecht III. den Stiftsbrief und machte damit die Gründung erst lebens fähig. So kam es jetzt zur Konsolidie rung der medizinischen Fakultät,die im Jahr 1389 ihre ersten Statuten erhielt. Die Wiener medizinische Fakultät um faßte keineswegs bloß die Lehrer und Schüler der Medizin, es gehörten ihr vielmehr alle in der Stadt praktizieren den Ärzte zeitlebens an. Die Fakultät war also gleichsam eine ärztliche Standesvertretimg, die auch für die wirt schaftlichen Belange ihrer Mitglieder eintrat,indem sie streng darauf achtete, daß keine unbefugten Personen die Heil kunst ausübten. In diesem Sinn mußten Ärzte, die von auswärts kamen und sich in Wien niederlassen wollten, zuvor um die Aufhahme in die Fakultät ansuchen; nur die Hof- und Leibärzte des Landes fürsten waren davon ausgenommen.Die Fakultät verstand sich bald als eine Art von Gesundheitsbehörde und bean spruchte als solche ein Aufsichtsrecht über die Wundärzte, Apotheker, Bader imd Hebammen.^ Mit dem Jahr 1399 beginnen die regel mäßigen Aufzeichnungen der Dekane über Ereignisse während ihrer Amtszeit. Diese „Acta facultatis medicae Universitatis Vindobonensis" sind bis heute na hezu lückenlos erhalten geblieben. Für die Jahre bis 1724 wurden sie im Druck herausgegeben. Als solche bilden sie eine der wichtigsten Quellen für die Verehrung der Heiligen Kosmas und Damian durch die Wiener medizinische Fakultät. Die Wiener Ärzte betrachteten zu nächst den heiligen Lukas als ihren Patron. So zeigt das älteste Siegel der medizinischen Fakultät aus dem Jahr 1408 den geflügelten Stier als Symbol des Evangelisten, imd noch das 1615 entstandene Zepter der Fakultät trägt als Bekrönung eine Konsole,aufder das Figürchen des heiligen Lukas steht; in den Konsolenfeldem erscheinen unter den Gravuren nun aber auch der heilige Kosmas mit dem Hamglas und der hei lige Damian mit der Salbenbüchse.^ In den Acta facultatis medicae werden die Reliquien von Kosmas und Damian zum ersten Mal im Jahr 1413 genannt. Damals hatte der Doktor der freien Künste, Lehrer der Arznei und Kanoni kus bei St. Stephan Hermann von Treysa in seinem Testament verfügt, daß aus seinem Nachlaß sieben silberne Becher und zwei weitere kostbare Ge fäße für einen würdigen Schmuck der Häupter der Heiligen Kosmas und Da mian zu verwenden seien, und die Fa kultät bemühte sich um die Herausgabe aus der Erbmasse.^ Wenige Jahre da nach verzeichnet ein Inventar der Reli quien der Stephanskirche „capita S. Cosme et Damiani in uno sarcophago argenteo quod comparatum est de bonis ... Magistri Hermanni de Treysa canonici". Damit ist erstmals auch die Form des Reliquiars angedeutet. Nachdem die Artistenfakultät bereits zu Beginn ihres Bestehens die heilige Katharina zur hohen Patronin erwählt hatte, die Theologen seit 1389 das Fest des heiligen Evangelisten Johannes be gingen und die Juristen seit 1429 den Tag des heiligen Ivo in der Kapelle ihrer Fakultät feierten, beschloß die medizini sche Fakultät in ihrer Versammlung vom 22. September 1429, nach dem Beispiel der anderen Fakultäten, auch einmal im Jahr eine solche Feier zu veranstalten.Das sollte nach der einhel ligen Meinung aller anwesenden Dokto ren bereits am 27. September dieses Jahres, am Fest der Heiligen Kosmas und Damian, geschehen und künftig regelmäßigso gehalten werden.^ Bald wurde diese Feierlichkeit der Höhepunkt im Jahresablauf der medizi nischen Fakultät, an dem sie sich mit allen ihren Mitgliedern und allen ihr Zugeordneten in feierlichem Gottes dienst und in einer Prozession, bei der die Reliquien der Heiligen rund um die Stephanskirche getragen wurden, der Öffentlichkeit darstellte. Zur Teilnahme an der Feier waren die Doktoren der Medizin, die Lizentiaten, Bakkalaurei tmd Scholaren und ebenso die der Auf sicht der medizinischen Fakultät unter worfenen Apotheker, Wundärzte und Bader ve^flichtet. Wer von den ersteren der Feier fernblieb, hatte eine Geldbuße zu entrichten. Auch der Rek tor und die Mitglieder der anderen Fa kultäten nahmen an der Feier teil. Schriftliche Einladungen dazu wurden am Kollegiumgebäude und an der Ste phanskirche angeschlagen. Im Jahr 1446 entschied die Fakultät, daß am Festtag der Heiligen Kosmas und Damian auch ihrer verstorbenen Mitglieder in besonderen Messen zu gedenken sei und am Vorabend die Vigilien gehalten werden sollten. Im Jahr 1454 ließ die Fakultät das Reliquiar vergolden, und alle Mitglieder der Fa kultät waren aufgefordert, nach ihrem Vermögen beizutragen und sich nach Möglichkeit auch bei anderen um Spen den zu bemühen, vor allem bei den Apothekern und Chirurgen. Seit 1516 war es üblich, daß während des feierli chen Gottesdienstes am Festtag der Fa kultätspatrone nach dem Evangelium ein Scholar vor dem Klerus und den Angehörigen der Universität eine ge lehrte Rede zu Ehren von Kosmas und Damian und zum Preise der Heilkunst vorzutragen hatte. Sie konnte ihm als die erste von jenen drei Disputationen anerkannt werden,zu denen er im Laufe seines Studiums verpflichtet war.® In der Nähe der Stephanskirche wurde im Jahr 1483 ein Bauwerk errich tet, das den Namen „Heiligthumstuhl" oder auch „Heilthumstuhl" erhielt. Es war ein zwischen zwei Häusern ge spannter mächtiger Bogen aus Quader steinen imd darüber ein Geschoß mit vielen Fenstern, das zur Schaustellung der Reliquien bestimmt war. Alljährlich am Sonntag nach Ostern wurden alle Reliquien oder Heiligtümer aus der Ste phanskirche nacheinander in acht Pro zessionen oder Umgängen unter Gebet und Gesang hierher getragen, in den Fenstern ausgestellt und von den Prie stern dem Volk zur Verehrung vorge wiesen. Der Wiener Bürger und Rats herr Matthäus Heuperger ließ dazu im Jahr 1502 auf seine Kosten ein Büchlein im Druck erscheinen, das die einzelnen Reliquien kurz beschreibt und in nicht weiuger als 255 kleinformatigen Holz schnitten abbildet.® Darunter erschei nen,im „fünften Umgang", die Häupter von Kosmas und Damian. Das ist denn auch das Bild, das die Vorlage für die Rekonstruktion des Reliquiars zu Be ginn unseres Jahrhunderts abgab. Als 1514 eine Neuauflage dieses „Wiener Heiligthumbuches" mit einem Nachtrag erschien, waren zwei silberne, vergol dete Figuren der beiden Märtyrer, die weitere Reliquien enthielten, hinzuge kommen. Nachdem aber die Türken im August des Jahres 1526 den Ungarn bei Mohäcs eine vernichtende Niederlage beige bracht hatten und ihnen dann in höchst bedrohlicher Weise der Weg nach Mittel europa offenstand, mußten bald alle entbehrlichen Kirchenschätze, darunter auch alle eben genannten Reliquiare, abgeliefert und eir^eschmolzen werden, um aus dem Erlös Mittel für die so dringend notwendig gewordene Verstär kung der Wiener Stadtbefestigung zu gewinnen. In der Tat wurde Wien be reits drei Jahre danach,vom 26.Septem ber bis zum 16. Oktober 1529, von einem 27
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